Die Keltennadel
sie ihm vollständig aufgeklappt hin. Er nahm sie ihr aus der Hand. Vor einem grellroten Hintergrund sah man die Zeichnung eines Blinden, der heftig onanierte und das Ejakulat aus seinem überdimensionierten, angeschwollenen Penis bildete das Wort SEX.
Rawlings wusste, die Karte kam von ihnen. Der Clown beendete sein Gelächter: »– aa.«
Die Explosion schleuderte Mrs Schwarz auf die Straße hinaus, wo sie wie eine Stoffpuppe liegenblieb.
Rawlings stand noch, aber sein Kopf war nach hinten geschnellt, sodass sich die Haut des Halses straff über das gebrochene Ende der Wirbelsäule spannte. Sein Hinterkopf ruhte zwischen den Schulterblättern, und die blutigen Augenhöhlen blickten für einen Moment den Gehweg vor der Haustür hinab, bevor seine Beine in den Knien einknickten.
31
D ie große, gekachelte Kuppel der Hagia Sophia tauchte, flankiert von ihren vier Minaretten, aus dem Morgennebel auf und glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen. Vom oberen Teil der Kuppel aus schaute eine winzige Gestalt über die Stadt. Es war Becca de Lacy. Von ihrem Aussichtspunkt aus war Istanbul eine Stadt der Kirchenkuppeln, Moscheen und Minarette. Dann verschwanden die Moscheen und Minarette, und das moderne Istanbul auf seinen sieben Hügeln wurde durch Gebäude ersetzt, die aus purem Gold zu sein schienen und in der Sonne leuchteten.
Becca ging allein eine Straße entlang. Diese war mit glitzernden Mosaiken gepflastert, und von den Wänden der Gebäude sahen strenge Männer und Frauen in steifer Haltung herab. Becca bewegte den Mund, aus dem jedoch kein Laut drang. Sie kam an eine mit funkelnden Juwelen verzierte Tür. Die Tür öffnete sich nach innen und ließ einen jungen, blonden Mann sehen, der in einer Mönchskutte an einem Pult saß und an einem farbig bebilderten Manuskript arbeitete. Es war das Book of Kells, Irlands bedeutendste Handschrift.
Während Becca eine Seite betrachtete, die einen der vier Evangelisten zeigte, verwandelte sich das Blatt in eine Ikone, an der ein Mönch mit Lockenhaar und düsteren Zügen arbeitete. Becca ging rückwärts aus der offenen Tür und stand auf der aus dem Atlantik ragenden Insel Skellig Michael, hinter ihr lag eine winzige Siedlung aus bienenkorbförmigen Steinhütten.
Jane, die einen Kater auskurierte, brauchte eine halbe Minute, bis sie begriff, dass im Fernsehen das Video zum Titelsong von Beccas neuer CD gezeigt wurde. Sie tastete nach der Fernbedienung, um den Ton anzustellen, und fand sie, als gerade eine Montage aus Ikonen und verschnörkelten Buchstaben mit dem Mosaikbild einer byzantinischen Kaiserin endete, deren Gesicht sich dann in das von Becca verwandelte. Daraufhin wurde jedes einzelne der zahllosen kleinen Mosaiksteinchen zu einer Reproduktion des Hauptbildes. Das Video war ein wahrer Gewaltritt, vom Computer erzeugte Hexerei.
Jane fiel ein kurzes, wiederkehrendes Motiv auf, das nur für einen Sekundenbruchteil aufzutauchen schien. Es war das einzige Schwarzweißbild in dem Video und erschien immer dann, wenn es eine Montage aus Buchillustrationen gab. Sie drückte den Aufnahmeknopf ihres Videorecorders, in dem immer ein Band eingelegt war. Wenn sie die Sequenz auf dem Band erwischte, konnte sie sich später genauer damit beschäftigen.
Während des restlichen Liedes wurden die Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt, dann endete es damit, dass Becca die Straße in die andere Richtung ging, während die Herrscher und Heiligen auf den Mosaiken dreidimensional wurden, von den Wänden stiegen und ihr in einer bunten Parade folgten. Schließlich wurde die erste Einstellung in einer neuen Version wiederholt: Becca sah von der Kuppel aus zu einem der Minarette, und während ein bärtiger Muezzin auf der Brüstung seinen Gebetsaufruf begann, wurden Bild und Ton langsam ausgeblendet.
Der Fernsehmoderator verriet im Anschluss an das Lied seinen Zuschauern, dass Becca de Lacy in Kürze ihre Welttournee in Istanbul, der Stadt auf dem Video, beginnen würde. Jane beendete die Aufnahme und spulte das Band zurück.
Sie sammelte Geschirr und Besteck zusammen und ging in die Küche. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine aufgeregte Betriebsamkeit draußen beim Körnertisch. Eine Schar Finken und Meisen war plötzlich aufgeflogen und hatte in den Bäumen und Büschen Zuflucht gesucht. Die Krähen schon wieder, dachte sie und ging hinaus in den Garten. Es hatte strengen Frost gegeben, und der Reif auf dem Gras funkelte und glitzerte unter dem strahlendblauen
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