Die Keltennadel
Manchmal fragt man sich schon. Gelegentlich ist alles so kompliziert, wie Emily meinte.«
»Und wenn es so ist, mit wem reden Sie dann? Mit wem teilen Sie die Last?«
»Na ja… vielleicht gehe ich zur Beichte.«
»Das meine ich nicht. Ich rede von einem Freund, von jemand, der sich Ihren Kummer anhört, der sich um Sie sorgt. Wir alle brauchen jemanden.«
Ihre Worte waren wie Balsam, wie der warme Wein, den er trank, und sie setzten ein Gefühl tief in ihm frei. Er schluckte heftig.
»Es gab jemanden… früher… sie…« Er blockte ab. Das war ein Ort, den nur er betrat, egal, wie schmerzlich der Besuch dort war, er würde ihn versteckt halten, ein geheimer Schrein für Verlust und Schuld, keinem anderen Menschen bekannt. Es war besser so.
»Liam«, sagte Jane sanft. »Welchen Sinn hat es, wenn man über jedes Thema auf dieser Welt reden kann, aber nicht fähig ist, die eigenen Gefühle auszudrücken?«
Er sah sie an. »Aber das ist selbstsüchtig.«
»Nein, Liam. Für mich hört es sich eher nach Stolz an. Die Angst, verletzlich zu wirken. Ich bin stärker als alle anderen. Ich komme besser zurecht als die gewöhnlichen Sterblichen um mich herum. Und ich kann ihr Leid auch noch tragen.«
Nun bohrte sie tief in seine Seele, und die Wahrheit ihrer Worte stemmte die Türen seines verborgenen Allerheiligsten auf.
»Es gab eine Frau… in den Staaten… wir haben uns verliebt.« Er sah Jane an, nicht um Mitleid zu heischen, sondern in der vergeblichen Hoffnung, nicht mehr sagen zu müssen.
»Weiter«, beharrte sie sanft.
»Sie ist gestorben. Es war ein Unfall, und ich… ich hätte sie retten können.«
33
K evin Dempsey trank selten allein. Aber heute Abend fühlte er sich wie einer dieser vom Glück verlassenen Detectives im Fernsehen, die nur noch den Barkeeper als Ansprechpartner haben.
Natürlich hatte er ein Zuhause, eine liebevolle Frau und all das. Aber manchmal musste man eben allein sein. Manchmal zielte das Verständnis einer Ehefrau ins Leere, weil das Problem tief in einem selbst versteckt war und nur man selbst daran rühren konnte. Im Sommer wäre er an einem Tag wie diesem zum Angeln gegangen. Er sah auf die Uhr. Selbst nach zehn Uhr wäre es an einem Sommerabend noch hell genug. Diese Zeit mochte er am liebsten. Wenn die meisten Menschen Licht in ihren Häusern machten, und er war da draußen, der Fluss glitzerte, die Fledermäuse schwirrten, und der Tag verschmolz unendlich langsam mit der Nacht – der größte Zauber, den diese Insel zu bieten hatte. Nicht wie an den Orten, an denen er Urlaub gemacht hatte, wo es eben noch Tag war, und kaum genehmigte man sich einen Drink in einer Bar, schon war es Nacht, wenn man wieder herauskam… Aber es war nicht Sommer. Zwischen Winter und Frühling lag oft die raueste Zeit des Jahres.
Als vor einer halben Stunde sein Telefon geläutet hatte, war er nicht überrascht gewesen, Jacks Stimme zu hören. Er sagte, natürlich würde er gern auf einen Drink mit ihm gehen. Die Kumpel, mit denen man arbeitete, wussten eben immer Bescheid, darauf war Verlass. Es ging nicht nur um das Horrorerlebnis in London. Das war zweifellos grauenhaft gewesen, aber noch mehr zählte, dass es eine Art Omen war. Dempsey spürte, dass diese ganze Ermittlung aus dem Gleis lief. Sie machten alles, wie es sich gehörte, aber die normale Polizeiarbeit förderte einen feuchten Dreck zutage. Fragebögen, Klinkenputzen, Straßensperren sowohl in Ticknock als in Kilbride, bei denen die Autofahrer gefragt wurden, ob sie etwas gesehen hätten, die Vernehmungen der früheren Pfarrer in der Gemeinde – all das hatte nichts ergeben. Dasselbe galt für Sligo. Keine Spur von diesem Greg Mathers. Keine Anmeldung in einem Gästehaus. Keine Buchung bei einer Fluggesellschaft oder Fährlinie. Er jagte Phantome. Sein einziger Strohhalm war das Schriftstück des Priesters. Und was nützte ihm das? Er hatte viel riskiert, als er Lavelle ins Vertrauen zog. Bekam er etwas zurück? Oder wurde er nur in die Irre geführt?
Er drückte eine weitere Zigarette in einem Aschenbecher aus, der vor Kippen bereits überquoll.
Wenigstens eine seiner Ahnungen hatte sich jedoch bezahlt gemacht. Der gelbe Plastikfetzen. Es stammte nicht von einer Mülltüte. Man hatte mikroskopisch kleine Gewebeteile daran gefunden – und die stimmten mit Sarah Glennons DNS überein. Wahrscheinlich hatte das Plastik zu ihren Fesseln gehört. Nun lief die mühevolle Arbeit, Herstellern und Verteilern von Bindematerial
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