Die Keltennadel
Zeit verging. Der Geräuschpegel in der Bar stieg mit der Zahl der Gäste an. Er unterhielt sich über ein, zwei Meter Abstand schreiend mit jemandem, den er kaum kannte. Er musste sich unbedingt erleichtern, aber er harrte aus, weil der Kerl wohlhabend und wie ein potenzieller Käufer aussah. Schließlich entschuldigte er sich aber doch, und nachdem er sich durch das Gedränge zur Toilette gekämpft hatte, pinkelte er sich versehentlich ins Hosenbein, während er noch an den Knöpfen seiner Jeans fummelte.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, brüllte er und schlug mit der Faust an die Wand.
»Selber Scheiße«, sagte ein kahl geschorener Jugendlicher am Pissoir neben ihm.
»Halt bloß dein beschissenes Maul!«
Aggression brandete in O’Loughlin auf, er stellte sich dicht vor den Jugendlichen und atmete ihm schwer ins Gesicht. Der junge Mann drehte sich halb weg, aber plötzlich stieß er den Kopf mit großer Gewalt mitten in das Gesicht des Künstlers. O’Loughlin knallte gegen die Urinbecken und glitt zu Boden. Aus seiner Nase tropfte Blut auf sein Hemd. Bevor der Jugendliche schnell das Weite suchte, trat er ihm noch ein paarmal in die Rippen.
»Verdammt…« O’Loughlin rappelte sich hoch und sah in den Spiegel. Seine Nase war geschwollen und blutete. Er drehte den Wasserhahn auf und holte sich Toilettenpapier aus der nächsten Kabine. Dann fiel ihm ein, er könnte auf die Uhr schauen. Es war fast halb neun. Er ging wieder in die Kabine und schloss die Tür.
»Der Teufel soll dich holen, Kara«, murmelte er und zog sein Handy aus der Tasche. Er hatte Mühe, sich an die Nummer zu erinnern. Als er es endlich geschafft hatte, meldete sich niemand.
»Zum Teufel mit dir, Kara«, schrie er in das Gerät. »Ich komm rüber.«
Dann stolperte er aus der Toilette, das Papier ins Gesicht gedrückt. Er ließ die Bar links liegen und ging direkt zum Ausgang.
Zitternd und zerzaust kämpfte er sich durch Regen und Graupelschauer auf die andere Flussseite und kam schließlich vor der Galerie an. Die Lichter waren aus, aber als er durch die Glastür schaute, konnte er den wenige Meter entfernten Empfangstisch sehen. Karas Schlüssel lagen darauf. O’Loughlin drückte auf die Klinke, die Tür ging auf. Er machte Licht und rief ihren Namen.
Nachdem er ein kurzes Stück in den Hauptausstellungsbereich gegangen war, spürte er, wie seine Schuhe am Boden klebten. Beim ersten Hinsehen hielt er es für Farbe, aber dann hämmerte die Erkenntnis in sein benebeltes Gehirn. Das Blut sickerte unter der großen Installation hervor. Er torkelte um die Ecke und fiel gegen die Rollbahre, seine rudernden Hände erfassten das triefendnasse Laken.
Er betrat den abgegrenzten Bereich, der wie eine Geisterbahn auf dem Rummel angelegt war. In den verschiedenen Abteilungen hingen schauerliche Objekte herab und strichen über das Gesicht des Besuchers, während Lichter der Reihe nach an und ausgingen, ausgelöst von Wärmesensoren. In der letzten Kammer herrschte absolute Dunkelheit. Er zögerte, dann trat er über die Schwelle. Im ersten Moment nach dem Angehen des Lichts wähnte er sich Auge in Auge mit dem Exponat, dem Höhepunkt seines Erlebnisparcours – ein teilweise sezierter, mit Formaldehyd getränkter Leichnam, der so von der Decke hing, dass der Besucher nur wenige Zentimeter von dem abgehäuteten Schädel entfernt war.
Doch es war Kara, die ihn aus leeren Augen ansah, ein Gegenstand steckte in ihrer Wange, ihr weißer, nackter Körper drehte sich langsam in dem Ledergeschirr, in dem sonst der anonyme Tote hing. Blut glänzte auf ihren Schenkeln, lief in kleinen Bächen ihre Beine hinab und tröpfelte von den Füßen, Tropfen für Tropfen, in die Lache auf dem Boden.
41
D as Byzantinische Reich bestand mehr als tausend Jahre lang. Sein Mittelpunkt war Konstantinopel (heute Istanbul). 330 von Kaiser Konstantin gegründet und nach ihm benannt, sollte die Stadt das »zweite Rom« werden. Byzanz entwickelte sich als eine Mischung aus griechischem Denken, römischer Organisationskunst und christlichem Glauben und erreichte unter Kaiser Justinian im sechsten Jahrhundert einen architektonischen und künstlerischen Höhepunkt. Während Justinians Herrschaft wurden drei Bauwerke errichtet, die für die religiösen Prinzipien stehen, aus denen sich mit der Zeit die griechisch-orthodoxe Kirche entwickelte: die »große Kirche der heiligen Weisheit« (Hagia Sophia) in Konstantinopel, das befestigte Katharinenkloster auf dem Berg Sinai in
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