Die Keltennadel
Ägypten und die Basilika San Vitale im italienischen Ravenna.
Jane lag im Bett und las einige Seiten, die sie sich am frühen Abend aus dem Internet heruntergeladen hatte. Sie hatte eigentlich nach Material über Verona gesucht, dann war Ravenna in ihr Blickfeld geraten, und das wiederum veranlasste sie, weitere Bezüge zu Byzanz auszugraben. Sie blätterte zu einem Abschnitt über byzantinische Kunst.
Heute kann man hier Fresken oder Mosaike sehen, in denen der Blick – ob von Heiliger oder Muttergottes, Engel oder Prophet, Christus oder Märtyrer – den Betrachter in ein Reich der geistigen Ruhe zieht. Kein Wunder, dass der Künstler in Byzanz ebenso hoch in Ehren gehalten wurde wie der Priester; sein Schaffen galt als heilige Verrichtung. Es ging ihm nicht um innovative Maltechniken oder naturalistische Porträts. In einem theokratischen Staat zählte nicht das Individuum, weder als Künstler noch als Gegenstand der Kunst, sondern viel mehr das Absolute und Übermenschliche in stilisierter Erstarrung.
Jane fragte sich, ob es das war, was die verschwundene Kultur von Byzanz so attraktiv für Becca de Lacy machte. Es war leicht zu verstehen, warum sie Yeats fasziniert hatte, einiges davon klang in seinen Gedichten »Byzanz« und »Meerfahrt nach Byzanz« an, die sie in der Nacht zuvor gelesen hatte. Er musste ein strenger, fast priesterlicher Mensch gewesen sein, der vielleicht die Bedeutung der Stellung eines Dichters in der Gesellschaft überschätzte. Priesterlich. Das hatte einen archaischen Beiklang. Unbekannte Rituale und geheimnisvolle Beschwörungsformeln. Das alte Ägypten. Die Azteken. Die keltischen Druiden. Aber Liam Lavelle? Er war jedenfalls nicht in diesem Sinne priesterlich.
Was war zum Beispiel der Unterschied zwischen ihm und Alastair? Sie dachte daran, wie ihr Alastair einmal Fotos gezeigt hatte, aufgenommen in einer mittelalterlichen Kirche in Kilkenny, die seine Firma renovierte. Es handelte sich um Wasserspeier, auch Sheela-na-gigs genannt, weibliche Skulpturen, die lüstern ihre Genitalien zur Schau stellten. Alastair machte derbe Bemerkungen darüber, es war seine Art, eine gewisse Form männlicher Verlegenheit zu verbergen. Aber Lavelle war anders. Er wirkte selbstbewusst, was seine Sexualität anging, weder prüde noch geil.
Und die Spur Arroganz, die sie am Anfang abstoßend fand, hatte in ihrem Gespräch über Paula eine Erklärung gefunden. Sie lächelte, als sie an ihre erste Begegnung dachte und wie sie ihn durcheinandergebracht hatte. Sie lächelte ziemlich viel in letzter Zeit, wenn sie an Liam Lavelle dachte.
Der Radiowecker neben ihrem Bett zeigte 23.55 Uhr. Sie wollte die Nachrichten um Mitternacht hören, deshalb las sie noch ein letztes Stück aus den Seiten, die sie sich zusammengestellt hatte.
Konstantinopel war eine Stadt sagenhaften Reichtums, außerordentlicher Schönheit und imposanter Macht. In seiner Blütezeit gab es angeblich Häuser mit Türen aus Elfenbein, hinter denen die Bewohner in juwelenverzierten Betten schliefen. Durch die Entwicklung einer eigenen Form kirchlicher Organisation und religiösen Ausdrucks kam es zu einer allmählichen Lockerung der Bindungen an Rom, die ihren Höhepunkt im großen Schisma von 1054 erreichte. Nach der Abspaltung von der lateinischen Kirche wurde Byzanz zur lohnenden Beute für die Kreuzfahrer; im Jahr 1204 nahmen sie Konstantinopel ein und schlachteten viele Einwohner ab. Sie plünderten Kirchen und Paläste, schmolzen Statuen ein, um Münzen daraus zu machen, verfrachteten unbezahlbare Kunstschätze nach Europa und setzten sich selbst als Herrscher ein. Unter ihnen erlitt Byzanz einen steilen Niedergang; es kam zwar noch einmal zu einem letzten Aufblühen seiner früheren Pracht, doch bald traten die Kräfte des Islam auf den Plan. Da die Westchristen das Schicksal Konstantinopels nicht kümmerte, wurde es 1453 von den ottomanischen Türken unter Sultan Mehmed II. schließlich erobert. Der letzte Kaiser, mit dem passenden Namen Konstantin, fiel kämpfend auf den Mauern der Stadt.
Jane legte die Seite auf die Bettdecke und schaltete das Radio ein. Dann stand sie auf und ging in die Küche hinunter, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als sie die Treppe heraufkam, hörte sie, wie die Kurznachrichten begannen: »Streit um die Tagesordnung der Friedens und Versöhnungskonferenz, die übernächste Woche in Israel beginnt… Zwei Menschen sterben bei Autounfall auf der M 50… Leiche einer Frau in der Church Street in Dublin
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