Die keltische Schwester
bin müde, Beni. Ich hatte einen tierisch anstrengenden Tag. Meinetwegen kannst du ein paar Tage hierbleiben. Wissen die Eltern, wo du bist?«
»Wenn sie den Brief finden.«
»Uhhh. Beni!«
»Willst du sie anrufen?«
Das war das Allerletzte, was ich an diesem Abend noch wollte.
Ich erledigte es am nächsten Abend, und es war ein langes, unerquickliches Gespräch, das damit endete, dass ich mich heftig mit meiner Mutter stritt und schon deswegen Beni bei mir aufzunehmen drohte. Dummerweise nahm sie das Angebot schließlich an und drückte es mit den schönen Worten aus: »Dann übernimm du doch die Verantwortung für das Kind!«
»Schick mir alle Unterlagen, die ich für die Ummeldung brauche, und eine Vollmacht. Ich bin es leid, mit dir darüber zu diskutieren, wie meine oder Benis Zukunft gestaltet werden soll. Ich habe es nach meinen Wünschen geschafft, und Beni hat auch das Zeug dazu.«
Beni war bei dem Gespräch nicht dabei. Sie hatte sich in einem Anfall von Taktgefühl in das Gästezimmer zurückgezogen und ihren MP3-Player in die Ohren gestöpselt. Ich ging zu ihr hinein, als ich das Gespräch beendet hatte.
Beni ist ein hübsches Mädchen. Sie hat lange, goldblonde Haare, die sich ein bisschen ringeln. Aber sie zieht sich fürchterlich an. Jetzt sah sie mit großen, wahrhaft angsterfüllten Augen zu mir auf und wartete auf die Urteilsverkündung.
»Meinst du, du könntest dich an saubere Jeans und gebügelte Blusen gewöhnen?«
»Grundsätzlich?«
»Ja, ich fände den Anblick auf Dauer angenehmer.«
»Du meinst …? Ehrlich? Du meinst, ich kann wirklich …? Oh, ältere Schwester!«
Es rollten doch tatsächlich zwei Kullertränen die Wangen hinunter, und sie umarmte mich vorsichtig.
»Warum sagst du eigentlich immer ›ältere Schwester‹ zu mir, Beni?«
»Aus Achtung, alte chinesische Höflichkeitsform.«
»Oh, na dann. Herzlich willkommen zu Hause, jüngere Schwester.«
6. Faden, 2. Knoten
Es zeigte sich, dass durch Benis Einzug meine Verpflichtungen zwar größer geworden waren, aber mein Leben auch eine gewisse Bereicherung erhielt. Wenn auch nur dadurch, dass ich mich mit völlig neuen Themenkreisen zu beschäftigen hatte. Etwa dem Aussuchen eines geeigneten Gymnasiums, der Bevorratung von Lebensmitteln für eine permanent hungrige Halbwüchsige, dem abendlichen Unterhaltungsprogramm und dem ständigen Kampf um meine Kleidungsstücke, die sich Beni mit wachsender Begeisterung auslieh.
Daneben wurde es in der Firma langsam brenzlig, denn der erste Plan musste fertiggestellt werden. Ich hatte deshalb noch zwei weitere Zusammenstöße mit Schweitzer, bei denen ich meinen Ärger gewaltig herunterschlucken musste, um nicht sehr direkt zu werden. Darum blieb aber die meiste Arbeit an mir hängen. Mit Wulf war ich noch ein paar Mal essen gegangen,hatte aber weitgehend Distanz gewahrt. Im Augenblick war mir das zu riskant, vor allem, weil Karola Böhmers Huldigungen an ihn deutlich machten, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Nicht, dass mich das in irgendeiner Weise an irgendetwas gehindert hätte. Karola war eine liebe Frau, aber in Sachen Männer muss jede sich selbst die Nächste sein. Allerdings hatte sie durch ihr Interesse einen guten Blick für zarte Schwingungen, und an der Stelle wollte ich keine Verwicklung.
Ich stürzte mich wieder in die Arbeit und unterdrückte auch gelegentlich aufkeimende zarte Gefühle.
Wulf und ich hatten den ersten einigermaßen belastbaren Plan entwickelt und stellten ihn Dr. Koenig vor.
»Wir haben für die gesamte Abwicklung – Planung und Bauzeit – insgesamt vierzehn Monate ermittelt, das aber unter Berücksichtigung größtmöglicher Puffer. Damit würden wir, wenn der Baubeginn wirklich noch dieses Jahr im Dezember erfolgt, im Oktober nächsten Jahres in Betrieb gehen. Wichtig ist allerdings, dass alle Grundstückskäufe noch im August abgewickelt werden.«
»Im August? Das können wir getrost vergessen. Im August macht Frankreich Urlaub. Welches ist die kürzest mögliche Dauer?«
»Zwölfeinhalb Monate.«
»Gut, dann haben wir eine Reserve von sechs Wochen. Viel ist das nicht!«
»Nein, aber wir können mit dem engen Zeitplan unsere Auftraggeber etwas unter Druck setzen«, schlug ich vor.
»Natürlich. Wo gibt es Engpässe in dem geplanten Ablauf?«
»Die geringste zeitliche Reserve haben die Arbeiten an den Ferienhäusern. Und die Ausführung dessen liegt bei der Gemeinde. Einfacher würde es, wenn die Entscheidung zu Gunsten
Weitere Kostenlose Bücher