Die keltische Schwester
über dem Feld und hielten nach Nahrung Ausschau, giftiger Dünger wurde verteilt, Mausefallen warteten heimtückisch mit Leckerbissen lockend auf ihr Opfer, Traktoren und Autos rollten erbarmungslos über die Wege, und ein roter Kater, der hin und wieder auf den passenden Namen Dämon hörte, schlich allzu oft bedrohlich nahe an dem Menhir vorbei.
Ihm fielen fünf der Mäusekinder und später auch die Mutter zum Opfer.
Eine Maus überlebte.
9. Faden, 1. Knoten
Es wurde schon dämmerig, als ich an diesem wolkenverhangenen Abend nach Hause kam. Meine Schultern waren verspannt, ich war hungrig und fühlte mich ausgelaugt. Gesundheitsfanatiker hätten mir vermutlich jetzt eine Runde Waldlauf verschrieben und anschließend eine große Portion von irgendetwas ungeheuer Vitaminreichem.
Hektische Bewegung liegt mir nicht, und zum Essen hatte ich, soweit ich mich erinnern konnte, nur ein paar trockene Brötchen von gestern im Haus. Das mit dem Einkaufen klappte noch nicht so, aber das Essen in der Kantine war nicht schlecht und half mir meist, den Tag zu überstehen.
Das Vierparteienhaus, in dem ich im ersten Stock jetzt meine Wohnung hatte, lag im Dunkeln. Die Mitbewohner waren entweder auch noch nicht zu Hause oder hatten bereits die Rollläden hinuntergelassen. Ich schloss die Haustür auf, sah in den Briefkasten und schleppte mich müde die Treppen hoch. Mag sein, dass es die Müdigkeit war, die mich so unaufmerksam gemacht hatte, jedenfalls erschreckte ich mich halb zu Tode, als mich eine Stimme mit einem leicht gereizten »Na endlich!« begrüßte.
Die Stimme kam nicht aus dem Jenseits, doch zumindest aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der ausgewaschene Jeans, schlabberige Sweatshirts, schmutzige Turnschuhe und ein voluminöser Rucksack zum ganz normalen Zubehör eines jungen Mädchens gehörten.
»Beni, was machst du denn hier?«
»Ich warte seit Stunden auf dich.«
Ich war wohl etwas langsam, ich verstand nicht so recht, wieso meine fünfzehnjährige Schwester, die sich eigentlich in der Obhut unserer Eltern gut vierhundert Kilometer entfernt befinden sollte, hier auf den Treppenstufen vor meiner Wohnungstürsaß. Mitsamt einem prall gefüllten Rucksack und zwei ebenso prallen Plastiktüten. Sie gab das entzückende Bild einer jugendlichen Verwahrlosten ab.
»Und warum wartest du auf mich?«
»Weil ich dachte, dass du, wenn du endlich die Tür aufmachst, uns dann eine Pizza bestellen könntest. Ich hab nämlich seit Stunden nichts mehr gegessen.«
Ich seufzte. Die Erklärung war zu einfach. Aber was blieb mir anderes übrig, wir konnten ja nicht im Treppenhaus bleiben. Ich machte auf, und Beni schleppte sich und ihre Habseligkeiten in den Flur.
»Ein bis zwei erhellende Erklärungen wären nicht schlecht, Beni.«
»Ja, ältere Schwester. Aber erst, wenn ich was zu essen bekommen habe. Hier ist der Zettel vom Pizza-Service. Ich hab ihn aus deinem Briefkasten gezogen. Die mit Peperoni. Wo ist das Klo?«
Windstärke zwölf war nichts gegen das, was mir hier ins Haus gefegt kam. Ich wehrte mich nicht, zeigte ihr das Bad, rief den Pizza-Lieferanten an und bestellte auch gleich zwei Salate und Nudeln für mich mit. Was soll’s, das würde eine lange Nacht geben.
Ich kenne Beni nicht gut. Sie ist ein verspäteter Ausrutscher meiner Eltern. Vierzehn Jahre Altersunterschied sind nicht förderlich für ein enges Verhältnis unter Schwestern. Ich hatte das traute Heim verlassen, als Beni in den ersten Schuljahren war und sie zwischendurch nur bei meinen seltenen Besuchen zu Hause gesehen, immer wieder verwundert, dass ein einziger Mensch derart schnell wachsen kann.
Ich legte mein Kostüm ab und zog bequeme Hosen und einen Pullover an. Kühl war es jetzt Ende Mai noch immer, und tagsüber machte ich die Heizung nicht an. Ich war ja sowieso nicht in der Wohnung.
»Schick hast du’s hier, ältere Schwester. Hast du zufällig auch so was wie ein Gästebett? Oder wenigstens ein Eckchen, wo ich meinen Schlafsack hinlegen kann?«
»Gästebett, dort, in dem Zimmer.«
Ich konnte sie ja schlecht über Nacht auf die Straße setzen. Aber spätestens morgen früh saß wie wieder im Zug nach Hause, das war mal ganz sicher.
»Hast du die Pizza bestellt?«
»Ja, und auch Salat.«
»Oh, klasse. Hast du was zu trinken für mich. Milch oder so was?«
»Milch?«
»Schon gut, Wasser, Tee, Saft, egal.«
Ich goss uns beiden Orangensaft ein und holte Besteck und Teller aus dem Schrank. Draußen hielt ein Auto. Der
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