Die keltische Schwester
Zeitung auszumalen. Wäre ich glücklicher, wenn ich ein Kind hätte, wie Karola mir immer einreden wollte? Beni und ich kamen eigentlich gut aus, auch wenn der Altersunterschied beträchtlich war. Eine Tochter wie sie wäre nicht gänzlich unerträglich. Aber da saß man ja nicht drin.
Um den Artikel mit dem geklonten Schaf rankte sich jetzt eine wundervoll verschlungene Linie. Grimmig dachte ich mir, ich könnte Beni ja auch klonen lassen. Da weiß man wenigstens, was man hat. Andererseits war ich mir nicht ganz sicher, ob die Mutterrolle mir wirklich lag. Und ein Vater war in der Tat nicht verfügbar. Wulf würde sich nämlich bedanken.
Die Linien auf dem Zeitungsrand verwoben sich immer dichter. Eigentlich interessant, was ich da so kritzelte. Drei, nein, vier Fäden wanden sich umeinander, bildeten Knoten, zum Teil mit sich selbst, zum Teil mit den anderen Linien. Sah hübsch aus. Ob ich das mal auf einem leeren Blatt versuchen sollte? Mit verschiedenen Farben?
Ich war plötzlich wie getrieben. In Benis Zimmer fand ich eine Mappe mit Filzstiften aller Farben und einen leeren Block. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und begann mit Rot eine Kurve zu zeichnen. Und dann Grün dazu. Es wurde ein wildes, unstrukturiertes Gekritzel. Wie blöd, die ganze Zeit schon malten meine Finger die kompliziertesten Gebilde, aber sowie ich mich darauf konzentrierte, klappte es nicht mehr. Ich begann auf einem neuen Blatt. Ein einzelner, krakeliger Knoten gelang mir, aber erst nach mehreren Anläufen und langem Nachdenken. Aber jetzt war mein Ehrgeiz geweckt. Ich holte mir die Zeitung und versuchte das eigenartige Gewebe zu rekonstruieren. Es bereitete mir größte Mühe, und dem Ergebnis merkte man deutlich die Anstrengung an. Aber ich hatte wenigstens einen Teil hinbekommen. Mit verkrampften Schultern lehnte ich mich zurück und schloss die Augen.
Beinahe schlagartig sah ich das kleine einäugige Mädchen vor mir.
Danu stand am Rand einer Grube. Ihr Haar war gelöst und feucht von Regen. Andere Menschen standen bei ihr, sahen ebenfalls hinab in die Erde. Dort lagen fünf Gestalten nebeneinander ausgestreckt. Bewegungslos, stumm, tot. Zwei Frauen, zwei Männer, ein Junge. Eine der Frauen hatte lange, dunkle Zöpfe, die bis zur Taille über ihr blaues Kleid fielen. Bei ihr stand eine irdene Schale mit einem aufwendigen Muster aus Spiralen und geschwungenen Linien. Meb, die Töpferin.
Neben Danu tauchte der Grauhaarige auf. Conall, in einem langen, weißen Gewand. Er legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter und führte sie von dem Grab fort. Sie wanderten ein Stück schweigend durch den grauen Nieselregen. Dann hielt Danu plötzlich an und sah zu ihrem Begleiter hoch, das Gesicht nass von Regen und Tränen.
»Warum, Herr?«
»Sie waren krank. Eine schreckliche Krankheit, die Brieg mitgebracht hat. Wir konnten sie nicht heilen.«
»Aber ich habe Mona doch gewarnt. Ich habe doch gesehen, dass er Unglück bringt. Warum haben sie nicht auf mich gehört?«
»Weil du ein Kind bist, Danu.«
»Aber ich habe gesehen! Sie haben mir nicht geglaubt.«
»Die Menschen hören selten auf einen Rat, den sie nicht erbeten haben, Danu. Auch wenn du mehr siehst als andere, bist du doch für sie nur ein Kind.«
»Aber zu Euch kommen sie doch auch, wenn sie wissen wollen, was die Zukunft bringt.«
»Uns bitten sie um Antworten, wir raten nicht ungefragt. Du hast die Gabe, nicht das Wissen. Darum möchte ich ja, dass du bei uns bleibst und lernst. Es ist schlimm, dass du deine Eltern verloren hast. Weine, Danu! Trauere um deinen Verlust! Aber denke immer daran, dass deine Mutter und dein Vater nur in die Andere Welt hinübergegangen sind. Dort sind sie glücklich, glaub es mir. Dort gibt es weder Kummer noch Tränen, keine Krankheit, keine Schmerzen.«
Sie standen beide an dem alten, grauen Stein. Danu hatte die Hand des Mannes von ihrer Schulter geschüttelt und lehnte den Kopf an den Menhir. Leise bat sie: »Dann will ich auch zu ihnen gehen, Herr. Bitte! Ich mag hier nicht ohne sie sein.«
»Deine Zeit ist dafür noch nicht gekommen, Kind. Aber irgendwann wirst auch du über diese Schwelle gehen.«
Nebel umgab die beiden, die Stimmen wurden leiser, die Konturen verwischten.
Ich machte die Augen auf und fand mich noch immer an meinem Schreibtisch sitzen. Du liebe Zeit, wurde ich langsam schizophren? Das war jetzt schon das dritte Mal, dass ich einen Traum dieser Art hatte. Traum, oder war es eine Art Vision? Und immer spielte
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