Die keltische Schwester
das Mädchen eine Rolle darin!Hatte ich vielleicht doch einen verkappten Kinderwunsch? Nachdenklich versuchte ich die einzelnen Erinnerungsstückchen zusammenzubringen. Angefangen hatte es vor zwei Monaten. Es schien eine gewisse zeitliche Abfolge zu haben, erst die Geburt, dann das Geschehen am Strand, jetzt die Beerdigung der Eltern. Was sollte das? Was ging da in meinem Gehirn vor?
Doch keine vernünftige Erklärung fiel mir ein. In keinem Buch, in keinem Film, in keiner Zeitschrift, in keiner Erzählung hatte ich je von solchen Szenen gehört oder gesehen.
Ich grübelte, und während ich nachdachte, malten meine Finger mit den bunten Stiften.
Das Ergebnis war – traumhaft. Ein ganzes Blatt war mit einem zarten Flechtmuster versehen.
Der Ausfluss meines Wahnsinns war wenigstens ästhetisch!
6. Faden, 5. Knoten
Inzwischen war es Herbst geworden. Die Arbeiten in der Firma gingen zügig voran. Ich hatte alle Hände voll zu tun, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Daneben hatte mir Dr. Koenig noch zwei weitere kleine Vorhaben aufs Auge gedrückt. Über Langeweile konnte ich wirklich nicht klagen. Nur über immer häufiger auftretende Magenschmerzen. Ich überlegte schon, ob ich zum Arzt gehen sollte, aber dann fand ich doch wieder keine Zeit dazu.
Vor allem, als ich den Fehler entdeckte. Es war ein blödsinniger Zufall, der dazu führte. Die Bauabteilung hatte mir die Entwürfe der Bauplanung zugeschickt, und ich sah mir flüchtig die Unterlagen durch. Der Lageplan zeigte das zeltförmige Hauptgebäude und die Ferienhaussiedlung, die sich danebenanschloss. Vor meinen Augen entstand das Bild der Felder an der Küste, wie ich sie vor drei Monaten gesehen hatte. Ich versuchte mir das Gebäude aus Glas und Stahlträgern vorzustellen, wie es sich auf dem Gelände erhob. Wenn die Sonne schien, musste das ein ungeheurer Anblick sein, schimmernd im Licht wie ein Palast aus Kristall. Oder bei Nacht – phantastisch! Von innen beleuchtet, ein Zelt aus Wärme und Gold.
Ich sah mir noch einmal das Papier an. Was wurde eigentlich aus den beiden alten Häusern, die dort standen? Das eine, das Robert bewohnt hatte, das andere, in dem irgendwer einsam auf dem Felsen lebte, der in das Meer hineinragte?
Im Plan waren sie nicht eingezeichnet. Vermutlich hatte man sie bereits aufgekauft und würde sie abreißen. Na ja, das waren eben die Opfer des Fortschritts.
Wieso war die Landzunge eigentlich so weit rechts von dem Gebäude? In meiner Erinnerung hätte sie viel näher dabei liegen müssen.
Ich holte die Landkarte und verglich die beiden Pläne.
Da stimmte doch irgendetwas nicht!
Ich nahm ein Lineal und maß nach. Unmöglich konnte das Gebäude auf dem vorgesehenen Gelände Platz finden. Hatte der Architekt hier einen Fehler gemacht?
Ich wählte die Nummer des Projektleiterbüros.
»Wulf, hast du dir die neuen Pläne mal angesehen?«
»Ja, sieht doch gut aus, warum? Wir sind drei Tage vor dem Termin fertig geworden damit, Bauer vom Einkauf hat bereits die Vertragsverhandlungen für nächste Woche angesetzt.«
»Hör mal, ich hab so ein Gefühl, dass damit etwas nicht stimmt. Ich bin zwar kein Fachmann auf dem Gebiet, aber so, wie die Gebäudeabmessungen angegeben sind, kann das unmöglich auf das Grundstück passen.«
»Lindis, du spinnst. Das ist alles vermessen und sauber durchgerechnet.«
»Und wenn nicht? Kann es sein, dass der Plan des Guide Michelin verkehrt ist?«
»Hör mal, kannst du mich nicht mit solchen Albernheiten verschonen? Die Fachleute wissen schon, was sie tun. Genau wie du mit deinem Terminplan. Du kannst übrigens festhalten, dass die Medienplanung auch angefangen hat. Und der Termin für die nächste Lenkungskreissitzung verschiebt sich auf den 30. Oktober. Kannst du mir dann heute Abend den aktuellen Stand vorlegen?«
»Kann ich, selbstverständlich.«
Ich schob die Pläne beiseite und machte mich an die Aktualisierung. Vermutlich hatte ich wirklich gesponnen, was die räumliche Lage anbelangte.
Dr. Koenig war abends bei Wulf, als ich die neuesten Prognosen vorbeibrachte.
»Sieht gut aus, Dr. Koenig. Wir haben sogar einen Teil des Verzugs aus der Anfangsphase wieder aufgeholt. Unser kritischer Pfad hat jetzt wieder einen kleinen Puffer von drei Wochen.«
»Gut, dann kann ich ja beruhigende Informationen mitnehmen, wenn ich übermorgen nach Frankreich fahre.«
»Ich denke schon, aber vielleicht sollten Sie wegen der Lage …«
»Lindis!« Wulfs Stimme schlug zu wie eine Peitsche.
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