Die keltische Schwester
anrufen.«
»Kann warten.«
Bis die Berge zu Sand wurden und die Meere zu Tafelsalz vertrocknet waren, wenn es nach mir ging. Zum Glück gab es einen alten Schmachtfetzen im Abendprogramm, und anschließend schlief ich traumlos bis spät in den Sonntag hinein.
Die Vorstellung, am Montag Karola wieder im Büro gegenüberzustehen, war mir allerdings noch immer extrem unbehaglich.
11. Faden, 3. Knoten
Eine Woche später stand Beni mit herausforderndem Blick vor mir und sagte: »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass ich meine eigene Bluse trage?«
»Das ist kaum zu übersehen, Beni. Ein derart schrilles Orange findet sich nicht in meinem Schrank. Es kann einem die Tränen in die Augen treiben. Wo hast du das nur her?«
»Oh, es gibt eine superstarke Boutique, die mir Sarah gezeigt hat. Da solltest du auch mal reinschauen.«
»Na, ich weiß nicht.«
»Du meinst, das ist nicht dein Stil, was? Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, wie trist es in deiner Klamottenwelt aussieht? Graue Jacken, beigefarbene Blusen, braune Hosen, schwarze Pullis, sandfarbene Röcke, schlammfarbene Kostüme. Total öde Teile. Da werden ja sogar die Motten depressiv.«
»Du musst es ja nicht tragen.«
»Nein, aber ich muss dich ansehen. Und du siehst trist aus. Ehrlich. Früher, wenn du uns besucht hast, hast du doch andere Sachen getragen. Zumindest soweit ich mich erinnern kann.«
»Das kann während meines Studiums gewesen sein, Beni. Aber im Büro fallen leider Quietschgrün und Knallorange ein bisschen auf.«
»Muss ja nicht ganz so heftig sein, wenigstens mal ein bisschen Rot oder Blau. Du wirkst so farblos.«
»Wahrscheinlich bin ich farblos.«
Wir saßen bei einem von Beni gestalteten Essen zusammen. Sie hatte einen Salat gemacht, und im Backofen hüllte sich eine Gemüsetorte soeben in eine goldbraune Kruste. Beni, eine unersättliche und begeisterte Esserin, hatte ein bislang verborgenes Talent für die Küchenarbeit entwickelt. Die ersten Versuche waren nicht ganz geglückt, und der Pizza-Bringdiensthatte ein paar Mal aushelfen müssen, aber im Großen und Ganzen waren die Resultate durchaus genießbar.
»Ja, du bist farblos, wenn ich das so recht betrachte. Und das liegt nicht nur an den faden Sachen. Du guckst auch farblos. Ist was, ältere Schwester?«
Wenn Beni wüsste! Zu Beginn des Jahres, als ich bei KoenigConsult anfing, hatte ich noch geglaubt, wieder ein bisschen Schwung zu bekommen. Aber das war schnell verflogen. Die Routine hatte mich eingeholt, das Leben ging wieder so erschreckend eintönig an mir vorbei. Was war nur mit mir los? Warum war mir alles so gleichgültig? Ich konnte mir selbst keine Antwort darauf geben und schon erst recht nicht meiner Schwester, die viel zu jung für solche Probleme war.
»Nein, Beni, nichts ist.«
»Gut, wenn du es sagst. Aber wenn was ist, kannst du ruhig mit mir darüber reden.«
Ich lächelte sie an. »Danke für das Angebot.«
Als sie am Nachmittag zu einem Treffen ihrer Clique verschwunden war, setzte ich mich mit der Wochenendzeitung auf das Sofa und legte die Beine hoch. Aber ich konnte mich nicht so recht konzentrieren. Am liebsten hätte ich irgendetwas unternommen, aber mir fiel nichts Rechtes ein. Wulf war in Paris, meine anderen Bekannten wohnten zu weit weg. Blieb noch Karola. Sie hatte sich am Montag nach dem missglückten Ferienparkbesuch bei mir mit einem Alpenveilchen in der Hand entschuldigt.
»Du bist doch meine einzige Freundin«, hatte sie mit roter Nase geschnüffelt und mir wieder leidgetan. Ich entschuldigte mich also ebenfalls mit Übermüdung und üblen Magenschmerzen, was noch gar nicht so weit hergeholt war. Wir betrachteten die Sache als ungeschehen.
In meinem Telefonverzeichnis stand Karolas Nummer, ich wählte also.
»Hier ist die Jessika-Milena«, quäkte mir der Anrufbeantworter entgegen. »Meine Mutti und ich sin nich da. Wenn du was willst, musst du deinen Namen sagen.«
Ich legte den Hörer auf. Missmutig schlenderte ich durch die Wohnung, kehrte noch einmal zum Telefon zurück. Da lag natürlich auch noch der Zettel mit Roberts Nummer.
Nein, entschied ich, auch das nicht. Außerdem hatte sie eine französische Vorwahl.
Ich könnte natürlich ein bisschen aufräumen, überlegte ich, aber mit nicht allzu großer Begeisterung, und setzte mich wieder auf das Sofa.
Machte ich denn wirklich etwas falsch? War ich deswegen so unzufrieden mit mir und der Welt? Mit einem herumliegenden Stift begann ich die leeren Flächen der
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