Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
gedacht oder erst, als sie angefangen haben, dich zu jagen?«, fragte sie mit einer Lockerheit, die sie nicht empfand.
»Lange vorher«, antwortete Kai. »Aber ich bin nicht von allein darauf gekommen. Vieles davon habe ich zusammen mit meinem Mentor herausgefunden.«
»Aber ihr habt keine Beweise dafür?«
»Nein.«
»Hältst du es für möglich, dass der Gouverneur irgendwie von euren Theorien erfahren und dir deswegen die Weißmäntel auf den Hals gehetzt hat?«
Er fuhr sich durch das halbtrockene Haar. »Ich ... weiß es nicht. Wenn ja, dann wäre es zutiefst beunruhigend: Es würde voraussetzen, dass Syl Ra Van Gedanken lesen kann.«
Endriel verlagerte unruhig ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. »Vielleicht hat er es irgendwie in der Zukunft gesehen. Oder es aus den anderen Quellen erfahren, von denen du gesprochen hast. Wobei ich im Augenblick gar nicht wissen will, was damit gemeint ist.«
»Es ist zumindest nicht unmöglich.«
»Vielleicht hat er den Draxyll geschickt, um dich zum Schweigen zu bringen.«
»Nein.« Kai schüttelte den Kopf. »Der Angriff fand statt, lange bevor die Fahndungszeichnungen ausgehängt wurden. Zumindest nach dem, was mir die Schwarzen Ratten gesagt haben.«
»Das sind eine ganze Menge Ungereimtheiten, Kai.«
»Ja. Ich weiß.«
»Wer ist dieser Mentor, den wir abholen? Und diesmal keine Ausflüchte.«
»Ein Freund, wie ich gesagt habe. Mein Lehrer.«
»Und was hat er dich gelehrt?«
»Den Wert des Lebens. Die Natur des Universums. Alles.«
»Hat der Mann auch einen Namen?«
»Yu Nan.«
»Und wie hast du diesen Yu Nan getroffen? Bist du mit ihm verwandt oder verschwägert?«
»Nein.« Kai lächelte. »Ich habe ihn auf meinen Reisen getroffen. Ich ...« Er hielt inne. »Es ist eine lange Geschichte. Willst du sie hören?«
»Natürlich.« Ich würde alles geben, um deine Geschichte zu hören!
»Meine Eltern starben vor ungefähr vier Jahren, als ich achtzehn war.« Kai beobachtete die Sterne. »Plötzlich war ich allein. Niemand kümmerte sich um mich. Damals war ich voller Zorn und Trauer. Ich habe das gesamte Universum für diese Ungerechtigkeit verflucht. Schließlich verließ ich Siradad. Ich bin durch die Welt gezogen, auf der Suche nach einem Sinn hinter den Dingen. Ich heuerte auf Drachenschiffen an, reiste von Stadt zu Stadt, ohne Ziel.« Er lächelte mit nur einem Mundwinkel. »Aber anstatt Erleuchtung fand ich nur noch mehr Verzweiflung. Ich wurde ausgeraubt, betrogen, verjagt. Mein Hass auf die Hohen Völker wuchs von Tag zu Tag. Ich hatte geglaubt, dass die wahre Natur des Universums die Grausamkeit ist. Bis ich meinen Meister traf und erkannte, dass ich gar nichts wusste.
Er lehrte mich, das Leben zu lieben, in jeder einzelnen Sekunde, und dass hinter allen Dingen Schönheit steckt. Er zeigte mir, dass der Sinn, den ich suchte, nicht gefunden werden kann. Ich musste ihn selbst schaffen. Als ich bereit war aufzugeben, hat er mir Mut gegeben.« Er hielt inne.
Bitte sprich weiter , dachte Endriel. Öffne dein Herz für mich!
Kai sah sie an. »Verstehst du jetzt, warum es so wichtig für mich ist, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen?«
»Ja.« Es war die Wahrheit. Sie lächelte. »Und ich kann es kaum erwarten, diesen Mann kennenzulernen.«
Kai lachte. Schließlich sagte er: »Es ist spät. Ich werde versuchen, etwas zu schlafen.«
Warum kannst du nicht noch bleiben?, dachte sie enttäuscht. Aber nach außen hin nickte sie nur und sagte: »Tu das.«
»Gute Nacht.« Er machte Anstalten die Brücke zu verlassen.
»Kai?«
»Ja?«
»Vielleicht ... vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dich aus diesem Schlamassel rauszukriegen. Ich meine, vielleicht können wir den Weißmänteln die ganze Sache irgendwie erklären ... ohne dass sie dich einsperren.« Sie wusste, es war nur ein schwacher Trostversuch.
»Ja«, sagte er. »Ja, vielleicht. Wir sehen uns morgen früh.«
Nachdem er gegangen war, kehrte Stille ein. Endriel navigierte ihr Schiff und war gleichzeitig in Gedanken versunken. Ihre Gefühle waren vollkommen durcheinandergewirbelt und alles wegen Kai. Wegen dem, was er über Syl Ra Van gesagt hatte – und weil sie immer noch nicht wusste, ob er ihre Gefühle in irgendeiner Weise erwiderte. Ob er sich genauso zu ihr hingezogen fühlte wie sie sich zu ihm. Ach Mädchen, was soll das? Du hast im Augenblick wirklich andere Sorgen. Wenn du Pech hast, ist er an Frauen generell nicht interessiert. Das wäre dann wirklich zum Lachen, was?
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