Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
Energie. Es war mehr ein Lebewesen als eine Maschine.
Ich halluziniere , dachte sie mit offenstehendem Mund. Das kann nur ein Traum sein! Aber der Wind auf ihrer Haut sagte das Gegenteil, genau wie die warmen Sonnenstrahlen. Sie konnte das trockene Gras riechen, die reiche, salzige Luft schmecken. Endriel berührte ihr Gesicht mit den Fingern und es fühlte sich so wirklich an wie nur irgend etwas.
Als die Schmetterlingsmaschine über sie hinwegglitt, überzog sie sie mit einem sanften Schatten und war kurz darauf verschwunden, so substanzlos und leise wie ein Lufthauch. Endriels Blick folgte dem Ding – und sah das Meer, das am fernen Horizont gegen die Küste schlug.
Dort gab es eine weitere Kristallstadt. Pyramiden, Türme und Kuppeln glänzten im Sonnenlicht. Wie ein gläsernes Band zogen sie sich an der Küste entlang. Über der Stadt bemerkte sie den fahlen Schatten eines Mondes. Er war perfekt rund und so groß, dass sie sogar Kratereinschläge auf seiner Oberfläche erkennen konnte. Ein fremder Mond.
»Wo zum Henker bin ich?«, flüsterte sie mit Angst in der Stimme. Sie musterte ihre Hand, die Kai berührt hatte. Hatte die Armschiene irgendwie einen Nexus geöffnet? Und wenn ja, wo hatte er sie hingeschickt?
Im gleichen Augenblick spürte sie hinter sich Bewegung in der Luft. Große Schwingen rauschten und warfen ihren Schatten über sie. Sie hielt es für ein weiteres Fluggerät und wirbelte herum. Als sie erkannte, wie sehr sie sich irrte, stolperte sie zwei Schritte zurück und landete fast im kniehohen Gras. Ich träume! Verdammt, wach endlich auf!
Ein Sha Yang stand vor ihr und faltete seine gewaltigen ledernen Flügel auf dem Rücken zusammen. Er war beinahe so groß wie Keru, doch sein Körper und seine Gliedmaßen waren dünn, fast mager. Glatte Haut schimmerte bläulich und perlmuttfarben im Licht. Er wirkte annähernd menschlich, doch seine Proportionen waren gestreckter. Bis auf einen langen Kilt aus seidigem Stoff war er (sie?) nackt.
» Willkommen «, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, doch der Mund des Sha Yang bewegte sich nicht.
Schneeweißes Haar leuchtete auf seinem Schädel. Es fiel lang und glatt gekämmt nach hinten. In dem flachen, langen Gesicht lagen zwei Augen mit Pupillen wie poliertes Silber, eine kaum zu erkennende Nase und ein nur angedeuteter Mund, der sich leicht krümmte. Ein Lächeln?
Endriel starrte das Geschöpf an. Dies war keine Projektion. Vor ihr stand ein lebender, atmender Sha Yang! Ein mulmiges Gefühl erfüllte ihren Bauch und ihre Handflächen schwitzten, während das Wesen, in dessen Schatten sie stand, sie mit schräg gelegtem Kopf musterte.
»H-Hallo! Ich ... Sie ... äh ...« Du stammelst wie eine Idiotin , dachte sie. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, versuchte sie es erneut: »Sie können mir nicht zufällig sagen, wo bin ich?«
Der Sha Yang hob eine schmale Hand mit vier langen Fingern. Seine Geste schloss das Meer ein, die Kristallstadt, alles hier. » In einem anderen Zeitalter. « Die Stimme in Endriels Kopf sprach akzentfreies Komdra. Sie war so sanft und melodisch wie das Flüstern gläserner Flöten.
»Ich ... bin durch die Zeit gereist?«
» Nein . Du siehst nur einen Schatten der Vergangenheit. Eine Aufzeichnung .«
Endriel bewunderte das Perlmutt-Schimmern auf seiner Haut und die blauen Adern auf den weißen Schwingen. Sie betrachtete die Grashalme unter sich, den Mondschatten am Himmel. »Aber ... es fühlt sich so echt an!«
» So soll es sein. «
Dann begriff sie. »Sie sind Yu Nan. Kais Mentor.«
» Ich bin nur sein Eidolon. Ein Simulacrum seiner Persönlichkeit. «
Sie hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. »Und was ist mit mir? Mit meinem Körper? Bin ich wirklich hier, oder ist das auch nur ein Simuldingsbums?«
»So ist es.«
»Das verstehe ich nicht!«
Der Sha Yang lächelte. » Das ist auch nicht notwendig. «
Endriel akzeptierte es widerwillig. »Kai hat mich hierhergeschickt.«
» Ich weiß. «
»Er sagte ... Sie seien ... nun ja: alt!«
» Das bin ich. « Seine sanfte Stimme mischte sich mit dem flüsternden Wind. »Zumindest mein wahres Ich in der Realität. Ich bin nur eine Kopie und darum zeitlos. «
Endriels Blick wanderte wieder über das Panorama der Wunder um sie herum. »War Kai auch hier?«
» Ja. Von Zeit zu Zeit betritt er diese Simulation, um Trost zu finden. Um mit mir zu sprechen. « Der Sha Yang hatte sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Mit vorsichtigen Schritten strebte er auf
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