Die Ketzerbibel
Garnreste aus dem Abfallkorb nach Farben und Längen zu sortieren. Sie hätte noch ein wenig Rot gebrauchen können und sah zu Gebba hinüber, die gerade ein schönes Stück krapprot und gelb gestreiftes Tuch abgekettelt hatte.
«Ja, komm nur», sagte Gebba, die ihre spitze Bemerkung bereits bedauerte. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, sich freundlicher zu verhalten und das auch bislang leidlich durchgehalten.
«Da hast du.» Sie schnitt die Überlängen der Kettfäden ab und wickelte sie zu einem Knäuel auf. Danielle machte sich an die Arbeit. Die Tongewichte klickten leise gegeneinander. Ihr Teppich reichte nun vom oberen Warenbaum bis zu ihren Knien herab. Man sah eine Frau in weißer römischer Tracht, umgeben von einem Blumenkranz. Ihre Hände waren gefesselt.
Philippa, die Rohwolle kämmte, lehnte sich weit zu Danielle hinüber. «Ich möchte bloß wissen, was sie da zusammenwebt. Ist es etwa die Geschichte einer Heiligen?Guilhelme, hilf du uns, da unsere Schwester Danielle uns so im Ungewissen lässt. Du weißt doch solche Sachen immer: Welche Heilige ist das?»
«Die heilige Afra. Sie wird oft dargestellt, wie sie an einen Pfahl oder einen Baum gefesselt ist. Das könnte stimmen, denn die Frau auf Danielles Bild ist auch an einen Pfahl gefesselt, und sie trägt römische Kleider.»
«Weshalb nochmal ist sie zur Märtyrerin geworden?»
«Sie hat einen verurteilten Christen versteckt und sich geweigert, den römischen Kaiser anzubeten.»
«Aber die da trägt keine Märtyrerkrone. Sie hat nicht einmal einen Heiligenschein!»
«Sie ist keine Heilige», Danielle lächelte, «weiß der Himmel, das ist sie nicht.»
«Dann hast du also doch einen Plan. Du hast die ganze Zeit gewusst, was du darstellen willst, und es uns nicht gesagt!», rief Gebba erbost.
Danielle schwieg und knüpfte ein neues Stück Wolle an.
Manon betätigte die Trittbretter des großen Webstuhls vorne an der Tür. Klipp, klapp. «Streiten die beiden schon wieder?», fragte sie ihre Gehilfin.
Philippa war aufgestanden und hatte sich hinter Danielle aufgestellt, ohne das Kämmen zu unterbrechen.
«Das ist aber kein Pfahl, an den sie da gefesselt ist. Es sieht eher aus wie ein Stock, den sie hält, ein Hirtenstock, um den sich eine Ranke windet.»
Danielle lächelte, sagte aber nichts.
«Schwester, das ist wirklich gemein von dir, uns so auf die Folter zu spannen. Nun sag uns doch endlich, was es wird! Ist es die heilige Afra?»
«Eine Heilige ist es nicht.»
«Oh! Danielle!» Gebba warf ein Wollknäuel nach ihr.
15.
Es war ein flaches Paket, nur etwa daumendick, in gewachste Leinwand geschnürt und versiegelt. Salzwasser, das inzwischen wieder getrocknet war, hatte weißgeränderte Flecken darauf hinterlassen. An den Ecken war es angestoßen und schmutzig geworden von vielen Händen, die es berührt hatten, aber das Siegel war unverletzt. Und auf welch verschlungenen Wegen hatte es Carolus erreicht! In Paris war es vor mehr als einem Monat mit dem Kurier eines großen Handelhauses auf die Reise geschickt worden. Das Haus Fabre unterhielt Relaisstationen, in denen die Pferde gewechselt werden konnten, und so war es über Land rasch bis nach Lyon gelangt. Dort lag es eine Weile im Kontor herum zwischen Pfeffersäcken, eingesalzenem Fisch, Safran aus Albi und Teppichen aus Flandern, bis sich eine Möglichkeit des Weitertransports ergab. Mit einer Ladung Pergament aus Savoyen ging es schließlich nach Avignon und wartete dort in der Umhängetasche eines jener Makler, die im Hafen Käufer und Verkäufer zusammenbringen und ihren Schnitt dabei machen. Für die Vermittlung des Briefes nahm er nichts; es war nur ein Gefallen, den er dem Kapitän tat.
Schließlich hörte er von einem kleinen Schiff, das Seide und Edelsteine nach Forqualquier transportierte, und so war das Päckchen nach Saint Nicolas gekommen.
«Ein Brief nach Pertuis! Ist hier einer aus Pertuis?», hatte der Bootsmann gerufen. Und Honorat Tullo, der eben ein paar Ballen Damast nach Avignon verschiffte, nahm den Umschlag an sich.
«An unseren jungen Medicus, soso! Ich werde es ihm heute noch geben», sagte er, doch dann vergaß er das Päckchen auf seinem Schreibtisch, und dort lag es, bis seine Frau es sah, die es auf dem Markt Carolus’ Mutter übergab.
Nun endlich hielt er es in den Händen. «Aus Paris!»
«Etwa von jenem Taugenichts, mit dem du dort fast das Erbe deines Vaters versoffen hättest?!», rief seine Mutter. «Was schreibt er denn?»
«Ich
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