Die Ketzerbibel
muss es erst lesen, Mutter!»
Ungeduldig brach er mit einem Messerchen das Siegel auf. Der Stoff war durch die Einwirkung von Hitze, Kälte und unsanfter Behandlung so fest verklebt, als sei er genäht. Carolus rupfte an den Enden und schlitzte das Ganze schließlich an einer Seite auf. Ein dünnes Büchlein fiel ihm entgegen. Der Ledereinband war gewellt, Deckel und Bindung von häufigem Gebrauch abgenutzt. Er drehte es in der Hand und las den verblassten Titel: «Passionibus Mulierum Curandum» – ein Buch über Frauenleiden und deren Heilung. Er sah hinein, erblickte eine detaillierte Zeichnung und klappte das Buch gleich wieder zu. Vielleicht sollte er es lieber den Schwestern Jeanne und Auda übergeben. Er entfaltete den Brief:
«Lieber Freund,
ich habe mich gefreut, nach langer Zeit endlich von dir zu hören. So hast du dich also tatsächlich in deiner Heimatstadt als Arzt niedergelassen? Du warst ja bei uns im Norden nie glücklich. Ich habe zunächst einige Jahre als Gehilfe bei dem Medicus gearbeitet, den du auch kennst, und mich jetzt selbstständig gemacht. Ich habe geheiratet und schon drei Kinder.»
Er berichtete sehr ausführlich von den Vorzügen dieser Frau und von den Tugenden seiner Kinder und pries den Stand der Ehe derart an, dass Carolus verächtlich schnaubte:«Er hat geheiratet. So wie er schreibt, bereut er es und möchte gerne, dass ich in dieselbe Falle gehe, damit es ihm nicht allein schlechtgeht.»
«Er hat geheiratet? Brav», sagte seine Mutter. «Wann heiratest du endlich? Du warst doch gestern bei Vidals zum Diner. Hast du mit Catherine gesprochen?»
«Ja, Mutter, ich habe das Verlöbnis gelöst.»
«Was hast du?!», schrie seine Mutter. «Wie konntest du? Warum? Ihre Familie gehört zu den besten der Stadt! Jahre lang sind dein Vater und ich um ihren Vater herumgetanzt, damit du eine gute Partie machen solltest! Was fällt dir ein, du Lausebengel? Wenn dein Vater das noch erlebt hätte, er hätte dir die Ohren langgezogen! Warum hast du das getan?»
«Weil wir uns nicht lieben», sagte er geistesabwesend, während er den Brief weiterstudierte.
«Nicht lieben? Bist du verrückt geworden? Was hat denn Liebe mit Heiraten zu tun? Gleich gehst du hin und entschuldigst dich bei Mestra Catherine, und dann legt ihr den Hochzeitstermin fest! Nächsten Donnerstag wäre ein guter Zeitpunkt!»
«Ja, Mutter», murmelte Carolus mechanisch und las weiter.
«Wegen der Sache, nach der du dich erkundigt hast, kann ich dir Folgendes mitteilen. Es hat hier voriges Jahr einen großen Skandal gegeben. Eine Frau, die sich …» Hier hatte der Brief leider einen großen Salzwasserfleck und war ganz unleserlich: «fanden sich … Zeugen bestochen … gleichwohl … aus der … bereits Zustand … Winter …» Das war aber auch zu ärgerlich! Was sollte er nun daraus machen? Eine Frau, die was? Jetzt hatte er noch mehr Fragen als vorher! Konnte da von Danielle die Rede sein? Paris war so groß, die Wahrscheinlichkeit, dass gerade sie dort einenSkandal verursacht hatte, geradezu verschwindend gering. Aber wenn doch, was um alles in der Welt hatte sie getan? Hatte die Gegenseite Zeugen bestochen? Das hieße ja, sie wäre unschuldig angeklagt worden. Und nichts anderes als das konnte sie in seinen Augen sein: unschuldig und unfähig, etwas Böses zu tun. Er war derart verliebt, dass er sich um nichts auf der Welt vorstellen konnte, sie habe auch nur einen geringen Fehler – nein, sie war vollkommen!
Etwas weiter unten kam noch: «… wahrscheinlich nicht überlebt. In diesem Zustand und im Winter hätte sie es nie so weit in den Süden geschafft. Es war sehr traurig und ein Schandfleck auf der Sorbonne, ein weiterer von vielen! Lieber Freund, lebe wohl und lasse von dir hören. Und wenn du mir vielleicht ein Quäntchen Teufelsdreck zukommen lassen würdest, der hier sehr schwer zu bekommen ist, wäre ich dir sehr verbunden. Beatus.» Und dann noch ein Nachsatz: «Ich schicke dir ein Buch mit, das von ihrer Hand stammen soll. Ich habe es mir abgeschrieben; es enthält hauptsächlich Ratschläge schwangere Frauen betreffend, ist also für uns nicht von besonderem Belang. Doch einige der beschriebenen chirurgischen Praktiken sind recht originell. Sodass es – wenn man es recht bedenkt – wahrscheinlich gar nicht von einer Frau stammt. Aber du warst ja immer an solchen Kuriosa interessiert. Gehab dich wohl!»
Carolus trug das kleine Buch in sein Studierzimmer, wo ihm seine
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