Die Ketzerbibel
für ein Stab ist das, den die Figur hält?» Juliana beugte sich über Danielles Webteppich und hielt die Lampe daran. Anne fügte ihr Licht dazu.
«Es ist ein Hirtenstab mit einer Ranke, nein! Das ist eine Schlange!»
«Eine Schlange, die sich um einen Stab windet …»
«Viertes Buch Mose, Vers 21», flüsterte die schriftkundige Anne. «‹Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf.› Glaubst du, man soll Laura von einer Schlange beißen lassen?»
«Dafür, dass du so belesen bist, bist du manchmal ungewöhnlich begriffsstutzig, meine liebe Anne!», sagte Juliana. «Denk nach. Die Schlange am Stab ist ein viel älteres Symbol! Griechisch ‹as›, die Schlange, und ‹klepi›, sich um etwas ringeln.»
«Der heidnische Gott der Heilkunde?»
«Richtig. Die Schlange wird Asklepios zugeordnet. Sie ist ein uraltes Zeichen der Heilkunde. Und nun schau auf die Pflanzen, die Danielle gewoben hat: Weinraute?»
«Man gibt sie Frauen, die in die Jahre kommen, gegen Hitzewallungen und gegen andere Störungen, die in dieser Zeit kommen. Ich bekomme sie zu den Mahlzeiten von Jeanne.»
«Ja, das habe ich beobachtet und mich daran erinnert, dass auch ich sie genommen habe und meine Mutter vor mir, als wir die Schwelle von der Frau zur alten Frau überschritten. Und da habe ich mich bei Jeanne erkundigt, welches die anderen Kräuter sind, die Danielle in ihr Bild gewebt hat. Und siehe da, es sind alles Kräuter, die Frauen nützen. Sieh hier!», sie wies mit einem knochigen Finger auf eine hellviolette Blüte. «Betonienkraut. Das sei gut gegen zu starke Monatsblutungen, sagt Jeanne. Und hier: Liebstöckel – gegen die Beschwerden davor. Und Johanniskraut – gegen die Traurigkeit nach Fehlgeburten. Goldkamille – Schwangere müssen sie meiden! Dieser Blumenkranz ist das reinste Kompendium der Frauenheilkunde!»
«Du glaubst, sie ist Hebamme?»
«Wenn nicht sogar Ärztin.»
«Eine Ärztin? Das gibt es doch gar nicht.»
«Doch. Es gibt eine einzige Schule für Heilkunst, in der auch Frauen ausgebildet werden – und die liegt in der Nähe von Neapel! Hat nicht Magdalène gesagt, dass Danielle wie ein Neapolitaner spricht?»
«Und du glaubst …»
«Allerdings. Und ich bin mir auch sicher, dass sie der ‹Engel› war, der Magdalène geheilt hat. Aber lass sie uns selbst fragen.»
Kopfschüttelnd folgte Anne ihrer Meisterin. Leise gingen sie durch den Speiseraum und hinauf in den ersten Stock, wo die Schwestern auf ihren Strohsäcken schliefen – bis auf eine. Danielle hatte mit offenen Augen gelegen und an die Decke gestarrt, wie sie es oft tat. Sie sah sie kommen, stand wortlos auf, zog sich ein Kleid über den Kopf und folgte ihnen. Einige der Schwestern murmelten schlaftrunken oder legten sich einen Arm vor die Augen, um sich vor dem Licht zu schützen, das durch ihre Lider drang.
Im Scriptorium stellten Anne und Juliana ihre Öllämpchen auf den Tisch.
«Wir haben diesen Bildteppich angeschaut», begann Anne.
«Hast du uns nichts zu sagen?», fragte Juliana.
«Habt ihr also mein Geheimnis herausgefunden», sagte Danielle. «Es war an der Zeit. Aber das ändert nichts. Ich werde nie wieder Kranke behandeln!»
«Warum?»
«Man hat mich wegen Kurpfuscherei verurteilt. Ich habe kein Recht, diesen Beruf auszuüben.»
«Und hast du dir etwas zuschulden kommen lassen?», fragte Juliana.
«Nein.» Danielle kam ihnen kein Stück entgegen.
«Aber du bist Ärztin. Ausgebildet in der berühmtesten Medizinschule unserer Zeit!»
«Das spielt keine Rolle mehr. Ich darf den Beruf nicht ausüben. Meine Hände sind gebunden, genauso, wie ich es auf dem Bild dargestellt habe.»
«Warum hast du dann Magdalène geholfen?»
«Ich konnte ihr nicht mehr Schaden zufügen, als bereits vorhanden war.»
Ungeduldig packte Anne Danielle an der Schulter und rüttelte sie.
«Hör auf mit diesen Ausflüchten. Ich kenne dich inzwischen besser! Tu nicht so unbeteiligt! Warum hast du so lange gewartet, um Magdalène zu helfen, wenn du es doch besser wusstest?!»
Danielle, die bislang Annes Blick ausgewichen war, sah ihr direkt in die Augen: «Ich hatte Angst, kannst du das nicht verstehen? Angst um mich, ja – und Angst, Magdalène zu schaden! Und wie hätte ich denn Jeanne und Carolus durch mein Eingreifen bloßstellen können. Jeanne ist erfahren, Carolus ist ein guter Arzt! Ich wollte ihnen nicht ins Handwerk pfuschen!»
«Bis es fast zu spät war!»
«Sie ist gesund
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