Die Ketzerbibel
grauen Nestern festklammerten und mit flinken, ruckenden Kopfbewegungen Ausschau hielten nach der Quelle des Geschreis. Es war eine Magd aus dem Haus Vidal. Ihr Haar war aufgelöst, das Gesicht rot vom Weinen. Bräunlich getrocknete Blutflecken klebten an ihren Ärmeln, ihren Händen, ihrem zerrissenen Kittel und ihrem Rock.
«Meine Herrin ist tot! Sie haben sie umgebracht und das Kind gestohlen!» Wie eine Wahnsinnige rannte sie durch die Gassen, hieb im Vorbeilaufen an die Türen, die Fensterläden. Überall erschienen Gesichter an den Fenstern, liefen die Leute auf die Straße hinaus.
«Was ist?»
«Wer ist gestorben?»
Die Magd erreichte die Place de l’Ange.
«Helft mir! Zu Hilfe, jemand tue doch etwas! Diese Hexen! Sie haben meine Herrin getötet!»
Die Frauen ließen ihre Kannen und ihre Krüge am Brunnen stehen und umringten sie. Hinter dem Haus des Konsuls hervor kamen diejenigen gerannt, die am Brotofen gewartet hatten. Sie kamen angerannt, mit mehligen Händen, mit den Backbrettern noch auf dem Kopf und den Laiben unter den Armen. Der Schuster im Ladengeschäft an derEcke Saint Antoine ließ seine Ahle fallen und folgte dem Lärm.
«Was ist geschehen, Belota? Was ist mit Mestra Laura?!»
«Sie sollte doch ihr Kind gebären, gestern, und es dauerte so lange, und es fiel ihr so schwer. Meine arme kleine Herrin!» Die Frau schluchzte und schlug die Hände vor das Gesicht.
«Und was? Ist sie dabei gestorben?», riefen die anderen Frauen, mitleidig zwar, aber es war nichts Ungewöhnliches, dass eine Frau dabei zugrunde ging. Es geschah alle Tage.
«Die Hebamme konnte nicht helfen und auch der Medicus vom Herrn Bonnefoy nicht, und da sind in der Nacht diese Hexen gekommen, diese Beginen, und da war so viel Blut! So viel Blut!»
Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Sie rückten enger aneinander. Aus den Straßen und den Gassen kam immer mehr Volk gelaufen.
«Hast du das selbst gesehen, Belota? Wie konnte Mestre Marius das zulassen?»
«Ach, mein armer Herr! Er war so verzweifelt, und als der Arzt am Ende seiner Kunst war und niemand mehr helfen konnte, da war er so verzweifelt! Er liebt doch seine Laura so sehr!»
«Ja, das stimmt! Keine Frau wird mehr geliebt und ist besser behandelt worden von ihrem Mann als Mestra Laura!»
«Er würde alles für sie tun!»
Laura war sehr beliebt im Ort. Man sprach von ihr fast wie von einer Heiligen. Doch das Hospital der
sorores
hatte ebenfalls einen guten Ruf.
«Und hat er Jeanne gerufen? Die ist doch eine gute Krankenschwester!»
«Ja, sie hat meine Tante gesund gepflegt! Sie würde niemandem willentlich schaden.»
«Die Neue, Auda, die ist Hebamme. Sie hat das Kind meiner Schwester entbunden. Und das hat sie so gemacht, wie es immer gemacht wird. Eine Hexe ist sie gewiss nicht! Weißt du, was du da sagst?»
«Die waren es ja nicht! Sie haben die Fremde gerufen, diese Italienerin!»
Ein zorniges Raunen ging durch die Menge. Sie kannten sie nicht, diese verschlossene Frau.
«Was hat sie getan?»
«Sie hat sie aufgeschnitten wie ein Tier! Oh, es war entsetzlich!»
Die Frauen bekreuzigten sich und stöhnten auf.
«Sie haben stinkendes Räucherwerk abgebrannt und zum Teufel gebetet und Zeichen auf das Laken gemalt mit Lauras Blut! Und das Kind haben sie mitgenommen!»
«Das sollen sie büßen, diese losen Weiber!»
«Dafür kommt sie auf den Scheiterhaufen!»
«Was? Scheiterhaufen? Wir machen kurzen Prozess mit ihr!»
«Lasst uns die Männer holen!»
Einige liefen los, um ihre Brüder, Ehemänner und Söhne zu holen. Andere bewaffneten sich mit Stöcken, Brotmessern, Schürhaken und allem, was gerade zur Hand war. Dicht gedrängt liefen sie und suchten Schutz beieinander. Wie ein einziges Tier schob sich die Menge durch die Rue Vaillante.
Alix, die Tordienst hatte, hörte sie kommen. Gerade als sie die Schlupftür geöffnet und hinausgespäht hatte, bogen die Ersten um die Ecke.
«Heilige Mutter Gottes, steh uns bei!», rief Alix, zog sich hastig zurück, schloss das Tor und legte von innen den Riegel vor.
«Kommt rasch, irgendjemand! Helft mir die Tür zu verbarrikadieren!Wir werden angegriffen!», schrie sie in den Hof hinein.
Jeanne kam aus dem Hospital und rieb sich die Augen.
«Was ist denn? Was schreist du so herum. Ich habe nicht einmal drei Stunden geschlafen!» Sie hob den Kopf und horchte nach dem Tor hin. Jetzt konnte sie es selber hören: ein wütendes Brummen und Summen wie ein Hornissenschwarm. Einzelne Rufe waren zu
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