Die Ketzerbibel
aus der ganzen Nachbarschaft Vögel mit gebrochenen Flügeln, Kitze, die von Raubvögeln verletzt worden waren, Hunde, die in Fallen gegangen waren und dergleichen. Ich hatte im Hof eine Ecke mit Käfigen, in denen meine Patienten aufbewahrt wurden. Mutter nannte es meine Menagerie, und meine Brüder wagten es nicht, meine Patienten zu stören oder zu ärgern.
Als ich älter war, hatten wir dann einmal einen jungen Doktor der Medizin zu Besuch. Er war ein entfernter Cousin meines Vaters und ein sehr ansehnlicher Mann. Ich schwärmte für ihn, und er erzählte mir von der «Civitas Hippocratica», der Medizinschule von Salerno. Ist sie euch ein Begriff?»
«Allerdings!», rief Jeanne. «Ich habe davon reden hören.»
«Ich habe keine Ahnung, was es damit auf sich hat, erzähl uns mehr!», sagten die anderen.
«Salerno ist ein Ort am Tyrrhenischen Meer.» Die wenigsten der Schwestern hatten je das Meer gesehen. «Das Meer ist eine riesige Wasserfläche, größer und tiefer als jeder See. Das Wasser ist salzig. Stellt euch vor: eine Bucht, das Wasser lau und grünbläulich schimmernd, die Ufer felsig und von lichten Eichen und Pinien bestanden. Über die Felsen wuchern die fetten, stacheligen Blätter der Feigenkakteen. Einesanfte Hügelkette steigt an vom Ufer gen Horizont, und aus einem Einschnitt der Hügel in der geschützten Mitte der Bucht, da ergießt sich ein Strom von geweißten Häusern bis an den Strand. Das ist Salerno. Auf einem der Hügel steht ein Kloster, ein Ableger des Klosters von Monte Cassino, das vom heiligen Benedikt selbst gegründet wurde. Und weil das Klima so angenehm, die Umgebung so schön und die Pflege der Mönche weithin berühmt war, sind die Kreuzfahrer dorthin gekommen, um ihre Wunden behandeln zu lassen und sich zu erholen. Immer mehr Herbergen, Garküchen und Wirtshäuser wurden gebraucht, um alle diese Ritter und ihr Gefolge zu versorgen. Die Stadt wuchs, wurde wohlhabend und bekam einen sehr guten Ruf. Jeder wollte dorthin, nachdem man sogar den Heiligen Vater von hartnäckigen und schmerzhaften Blasensteinen kuriert hatte.
Mit der Zeit gewöhnten sich auch die Leute in der Umgebung, vor allem aber die Adligen daran, jedes Mal, wenn jemand aus ihrer Familie krank wurde, die Mönche von Salerno rufen zu lassen. Das führte dazu, dass sie häufig aus dem Kloster abwesend waren und auch mit Frauen zusammenkamen. Dieser Misstand musste schließlich behoben werden, und so gründete man eine Laienschule für Medizin, um die Mönche zu entlasten. Ihr berühmtester Lehrer war Constantinus Africanus. Der war in seiner Jugend weit gereist und hatte im Orient und Okzident, bei den Indern und den Arabern viele medizinische Schriften gesammelt und ins Lateinische übersetzt, sodass in Salerno die Heilkunst der Antike wiederentdeckt und durch die Mönche weiterentwickelt wurde. Das ist nun schon dreihundert Jahre her. Ihr müsst verstehen, dass es damals kaum vergleichbare Schulen für Medizin gab. Bis heute sind die anderen medizinischen Fakultäten in ihrer theoretischen und praktischen Erforschung ziemlich eingeschränkt, weil sie unter kirchlichesEdikt fallen. Salerno aber fiel unter weltliche Herren, und die erlaubten vieles, was anderswo untersagt war.»
«Zu Recht untersagt», warf Gebba ein.
«Du redest Unsinn, weil du nichts davon verstehst», wies Jeanne sie zurecht.
«Viele berühmte Leute haben hier gelernt und gelehrt, unter anderen auch Thomas von Aquin, daran könnt ihr sehen, dass beileibe keine Ketzerei oder Zauberei vorkam», fuhr Danielle unbeirrt fort, nun, da sie sich einmal entschlossen hatte, alles zu erzählen. «Es ging alles sittlich und christlich zu. Das berühmte Lehrgedicht ‹Regimen Sanitatis Salernitatum› – die Gesundheitsregeln der salernitanischen Schule – wurde für Prinz Robert, den Sohn Wilhelm des Eroberers, verfasst, als er auf der Heimreise von Palästina eine Armwunde durch einen vergifteten Pfeil behandeln ließ.»
«Erbse kann ich empfehlen und nicht empfehlen,
denn ihrer Hülse beraubt, sei sie als gut dir erlaubt,
aber von dieser umringt, sie Schaden und Blähungen bringt!»,
zitierte Jeanne. Jemand machte ein entsprechendes Geräusch, und Annik kicherte.
«Ja. Das Gedicht hat zu allen Lebensmitteln etwas zu empfehlen. Wein ist gut –»
«Seht ihr: Das ist vernünftig», brummte Alix.
«Frisches Brot ist schlecht.»
«Schmeckt aber am besten!», warf die dicke Manon ein.
«Man soll sich waschen und die Zähne putzen am
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