Die Ketzerbibel
Einfahrt. Weiter hinten in den Hügeln sieht man eine Anzahl von Windmühlen stehen. Und die Stadt selbst ist dicht bevölkert von einem bunten Menschengemisch. Es gibt wohl keine Sprache der drei Kontinente, die dort nicht gesprochen wird.
Dort blieb ich einige Zeit, bis sich ein schneller Segler fand, der mich die Rhône hinaufbrachte bis Lyon. Und dann fand der Kapitän mir eine Gesellschaft von Kaufleuten, die zu Pferd nach Paris reisten. Ein halbes Jahr lang war ich unterwegs. Im Frühjahr war ich aus Neapel aufgebrochen, als die Feigenkakteen, die Pomeranzenbäume und die Mimosen blühten. Als ich in Paris ankam, fegten die Herbststürme durch kalte graue Gassen. Die Bäume waren fast kahl, und der große Fluss, die Seine, hatte die Farbe von Blei.
An der Sorbonne wies man mich ab. Man unterrichte keine Weiber und habe deshalb auch keinen Bedarf an Lehrerinnen. Also war ich zunächst einmal gestrandet. Mein Geld ging zur Neige. Ich kam bei einer Witwe unter, die Zimmer vermietete. Sie war geizig und gab mir nur wenig Holz, um mein Zimmer zu beheizen. Aber sie kannte viele Leute und verschaffte mir bald meine erste Arbeit. Die Bezahlung war schlecht zuerst, weil man mich nur rief, um Dienstboten zu behandeln, einmal sogar einen Esel! Die Leute meinten, einer Frau nicht so viel bezahlen zu müssen wie einem männlichen Arzt, obwohl ich doch die gleichen Leistungen erbrachte und beim Apotheker gewaltige Rechnungen machte. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Preise die Apotheker in einer großen Stadt für ganz gewöhnliche Kräuter nehmen! Ich habe zuerst kaum genug beiseitebringen können, um meine bescheidene Behausung bezahlen zu können. Paris war schlecht zu mir in diesem Winter. Ich habe gefroren und bin mit allen meinen Kleidern einschließlich Mantel zu Bettgegangen! Ich habe mich von grauem Brot ernährt, aus ungesiebtem Mehl, und von der dünnen bläulichen Milch, die nach dem Buttern übrig bleibt. Sie machen alles mit Butter dort. Das kannte ich nicht, und es ist mir auch nicht gut bekommen. Doch Olivenöl war mir zu teuer zu der Zeit.
Dann hatte ich einmal richtig Glück: Ich kam dazu, als die junge Frau eines reichen adligen Herrn auf der Straße in Ohnmacht fiel, weil sie ein viel zu enges Schnürgewand getragen hatte. Ich ließ sie rasch in ein nahes Gasthaus tragen und öffnete ihr Gewand. Da sah ich, dass sie auch noch schwanger war. Wenn sie so fortfahren würde, dann würde sie das Kind schädigen. Das gab ich ihrem Mann in aller Deutlichkeit zu verstehen. Und als er bei mir Sachverstand erkannte und ich ihm meine Lizenz zeigte, da engagierte er mich vom Fleck. Ich zog in sein Haus und leistete ihm, seiner Frau und seiner Familie gute Dienste. Als ich sie dann von einem gesunden Sohn entband, da belohnte er mich reich, und mein Glück schien gemacht.
Binnen kurzem war ich bekannt als die ‹Frau aus Salerno›. Ich bildete mir ein, jemand zu sein, und war doch nur eine nützliche Kuriosität, wie ich heute weiß. Damals wurde ich stolz. Ich konnte mir nun leisten, ein schönes Haus auf dem rechten Seineufer zu kaufen, nahe der Brücke Notre Dame. Das Haus wurde hübsch eingerichtet, nach und nach mit wertvollen und schönen Dingen gefüllt, mit Truhen aus kostbaren Hölzern, geschnitzten Stühlen, Silberzeug und Wandteppichen. Ein Gärtchen war auch dabei mit einer weinbewachsenen Laube. Es war wieder Frühling, und Paris erschien mir angenehm.
Wenn man etwas Geld in den Taschen hat, dann hat Paris viel zu bieten. Ich ließ mir schöne Kleider schneidern, wurde zu Soireen eingeladen, wo es Konzerte und Theateraufführungen gab, wo Troubadoure sangen. Man machte mir Komplimente,weil ich wie ein Mann über Philosophie zu reden verstand. Und ich konnte mich vor Aufträgen nicht retten. Dass sie oft unter meiner Würde und unter der Würde der ehrwürdigen Schule von Salerno waren, das wollte ich nicht sehen: Ich behandelte die Hysterien junger Frauen, die verdorbenen Mägen ihrer verzogenen und viel zu fetten Kinder; ich rührte Antifaltencremes und solche gegen Sommersprossen und viele solcher läppischen Sachen. Nun gut, ich habe auch alte Damen von ihrer Gicht befreit, indem ich ihnen Diäten und Schlammbäder verschrieb. Ich behandelte Kinder gegen Fieber, Blattern, Blutfluss und einmal einen Fall von Antoniusfeuer. Die Jungfrauen mit ihren Ängsten, die Schwangeren und Frauen mit zu starken Monatsblutungen mochten sich mir lieber anvertrauen als männlichen Ärzten. Aber alles
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