Die Ketzerbibel
Morgen, ihr kennt das alles. Die Regeln stammen aus Salerno. König Roger von Sizilien und nach ihm Friedrich der Staufer haben Salerno gefördert und Gesetze gegen Pfuscherei erlassen. Niemand sollte sich medizinisch betätigen, der nicht eine entsprechende Ausbildung gemacht und seine Lizenz von den königlichen Beamten bekommen hatte. Ach, wiestolz war mein Vater, als ich dieses Dokument in den Händen hielt!»
«Das haben sie auch Frauen gegeben?», fragte Gebba misstrauisch.
«Ja. Und es waren sogar weibliche Lehrer dort, wenige zwar, und sie haben nur Geburtshilfe und Kinderpflege gelehrt, wie Constantia Mammana, doch wer wollte, konnte alle Gebiete hören, sogar Chirurgie!»
«Frauen, die Leute aufschneiden? Pfui!», schimpfte Gebba.
«Wenn es zur Heilung führt, warum denn nicht? Aber ich gebe zu, dass diese Kurse fast ausschließlich von jungen Männern besucht wurden.»
«Hast du das Schneiden gelernt?», fragte Annik mit vor Aufregung zittriger Stimme.
«Ja, das habe ich. Und Anatomie! Wie soll man denn einem Menschen helfen, wenn man nicht weiß, wo seine Organe sitzen und wie sie aussehen? Wir haben allerdings nur an Schweinen geübt. Die Kirche hat das Aufschneiden von Leichen verboten.»
«Das ist gut!»
«Nein, das ist ganz schlecht, denn das Schwein ist dem Menschen nicht in allem ähnlich!», gab Danielle zu bedenken.
«Nur im Charakter», murmelte Anne, ohne jemand im Besonderen anzuschauen dabei. Doch Gebba drehte sich giftig nach ihr um.
«Zum Beispiel lernen die Geburtshelferinnen die weiblichen Genitalien nur an Säuen kennen und operieren dann an Frauen, ohne sie anzuschauen. Sie fühlen nur unter dem Rock. Deshalb wird so viel verdorben, und viele Frauen müssen unnötig leiden um der Scham willen.»
«Ich würde lieber sterben, als mich so anschauen zulassen, noch dazu womöglich von einem Mann!», Gebba errötete.
Danielle ging nicht darauf ein. «Wie auch immer. Man lehrte uns zu helfen, so gut es ging, und man lehrte uns vor allem, nicht zu schaden. Das ist das oberste Gesetz der Medizin. Der Patient darf hinterher nicht schlechter dran sein als vor der Behandlung.»
«Daran hättest du denken sollen, ehe du Lauras Kind getötet hast!», keifte Gebba.
«Ich habe dem Kind nichts getan. Jeanne und Auda sind meine Zeuginnen. Es war gesund und munter, als wir es in den Armen seiner Mutter ließen», sagte Danielle, der Wiederholung müde.
«Das stimmt! Ich schwöre es», warf Jeanne ein.
«Jaja, das hatten wir schon. Lasst sie weitererzählen! Gebba, hör auf, ständig zu unterbrechen!», sagte Juliana streng.
«Die Zeit in Salerno war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ohne dass Verantwortung auf meinen Schultern lastete, konnte ich meinen Wissensdurst nach Herzenslust befriedigen. Ihr würdet es nicht glauben, was schon die Alten wussten, die Griechen im Athen vor mehr als tausend Jahren! Das alles war in der dunklen Zeit vergessen worden! Und die Lehrer erst, die ich hatte! Da war einer, Nikolaus de Cretacio, ein hässlicher kleiner Mann, ein fetter Gnom. Doch was für einen faszinierenden Verstand er hatte, und er war immer freundlich, immer ausgeglichen.»
«Wie habt ihr denn nun gelernt, Menschen zu behandeln, wenn man euch nur anhand von Büchern und Schweinebraten hat studieren lassen?», wollte Jeanne wissen.
«Wir haben schon an Menschen gelernt, mit der Zeit. Diejenigen unter uns, die schon ihr Grundstudium der Philosophie, Arithmetik und Astrologie hinter sich gebracht hatten, die durften die Lehrer auf ihren morgendlichenKrankenbesuchen begleiten. Es gab zahlreiche Hospitäler in der Stadt, und die Schule betrieb selber das größte davon. Jeden Morgen und jeden Abend gingen die Ärzte und Lehrer von der Schule mit ausgesuchten Schülern hinüber ins Hospital, und da durften wir zuschauen und lernen. Ich ging auch mit Bruder Nikolaus zu den Armen. Die behandelte er umsonst.»
«Ach, an die haben sie dann euch Grünschnäbel rangelassen! Natürlich nicht an die hohen Herrschaften, aber die armen Leute mussten sich das wohl gefallen lassen?»
«Nein, nicht ganz so, Annik. Bruder Nikolaus war ja dabei und überwachte jeden Handgriff, den wir taten. Und vorher hat er uns vorgestellt und sie gefragt, ob es ihnen recht wäre. Manche sagten ja, andere sagten nein.
Ach, und wie anregend die Gesellschaft war! Wir Studenten lebten in Dormitorien, das heißt, es gab ein großes Haus für die Jungen und nur ein sehr kleines, in dem die weiblichen Studenten zusammen
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