Die Ketzerbibel
Gerücht aufgesessen. Die Beginen haben ihr beigestanden und sie gerettet, nicht umgebracht!»
«Mestra Laura lebt?»
«Sie lebt! Laura lebt!», setzte sich die Nachricht durch die Menge fort, wie Wellen auf einem See, in den man einen Stein geworfen hat.
«Laura lebt!», rief man über die Place de l’Ange.
Die Magd wurde nach vorne geschoben. «Sie hat es überall herumgeschrien, dass ihre Herrin tot sei!», hieß es.
«Ich hab’s gesehen!», verteidigte sie sich. «Ach, Herr Marius, ich bitte um Vergebung, aber als ich heute Morgen in das Schlafzimmer kam, um nach der Herrin zu sehen, da sah ich Euch über ihr Bett geworfen wie in einem großen Kummer. Und sie war ganz bleich und still! Und von dem Säugling war nirgends eine Spur.»
«Seht ihr, es ist ein Missverständnis!», rief Bélibaste.
«Was ist aber mit dem Säugling?», fragten diejenigen, die Marius zunächst standen.
«Ich weiß es nicht. Es stimmt: Unser Kind ist verschwunden.»
«Habt ihr denn alles abgesucht?»
«Das ganze Haus haben wir durchsucht vom Keller bis zum Dachboden. In jeden Winkel haben wir geschaut. Aber wie sollte sich denn so ein hilfloses Wesen aus eigener Kraftfortbewegen? Wir haben alle Dienstboten befragt und die Nachbarn gerufen. Es gibt keine Spur von meinem Sohn. Es ist, als habe er nie existiert! Wir können es uns nicht erklären. Meine arme Laura ist ganz verzweifelt!»
«Fragt die Hexe!»
«Brennt sie, schlagt sie, werft sie ins Wasser, dann wird sie schon sagen, was sie damit getan hat!»
«Die Begine Danielle hat nichts damit zu tun. Als sie das Haus verließ, da waren wir noch alle drei zusammen. Laura gab dem Kind die Brust. Dann bin ich eingeschlafen. Als ich erwachte, war es einfach fort.» Tränen liefen über sein Gesicht. Einige in der Menge fuhren sich über die Augen, ein paar weinten offen mit.
«Sicher ist sie im Schutz der Dunkelheit wiedergekommen», sagte Abbé Grégoire. «Es ist ja bekannt, dass Hexen von dem Blut ungetaufter Neugeborener angezogen werden. Vor allem, wenn sie bereits in das betreffende Haus eingeladen wurden. Dann können sie dort frei ein- und ausgehen. Sie muss in den Kerker geworfen und befragt werden!»
«Das wird nicht nötig sein», sagte Marius. «Meine Frau hat dieser Person vertraut, und ich tue es auch. Schaut sie euch doch an. Sieht so eine Hexe aus?»
«Wie sieht denn eine Hexe aus? Der Satan zeigt sich oft in schöner Gestalt, und so tun es auch seine Werkzeuge. Nein, ich sage, sie muss gefangen gesetzt und verhört werden. Heute noch!»
«Durchsucht doch den Hof, durchsucht alles, ob ihr das Kind findet!», rief die Menge.
Ein paar weitere Büttel waren dazugekommen. Auf den Befehl ihres Hauptmanns hin suchten sie alle Gebäude und Keller des Beginenhofes ab. Annik schrie auf und lief ihnen hinterher, als sie es aus Küche und Vorratskammer poltern hörte. Sie warfen die Körbe um, sahen in die Ölkrüge, schlitztenKornsäcke auf. Auf dem Heuboden und im Stall suchten sie. Lautstark machten die Maultiere ihrer Empörung Luft. Die Büttel drangen sogar in den Schlafsaal ein und hoben alle Decken hoch, schauten in alle Truhen. Zu Jeannes Entsetzen sahen sie auch in den Betten der Kranken nach.
Doch sie kamen mit leeren Händen zurück.
«Hier ist es nicht!»
«Da seht ihr es. Wir sind gottesfürchtige Frauen. Ihr kennt uns seit vielen Jahren. Wie könnt ihr nur annehmen, dass wir Kinder stehlen!», schalt Anne die Nachbarn.
«Euch verdächtigen wir ja auch nicht. Aber was ist, wenn euch die da behext hat?»
Anne schnaubte verächtlich. «Euch dampft noch der Wein von letzter Nacht aus dem Hirn! Geht nach Hause und schlaft euren Rausch aus.»
«Wir müssen Sieur de Bonnefoy fragen, was nun geschehen soll. Ihm obliegt die Gerichtsbarkeit im Namen seines Herrn», sagte Bélibaste. «Bis er entschieden hat, sollen die Beginen ihren Hof nicht verlassen und für ihre Schwester bürgen. Zu ihrer Sicherheit stelle ich Wachen vor dem Tor und an der hinteren Mauer auf.» Er gab seinen Männern ein kurzes Zeichen mit der Hand, woraufhin sie Aufstellung nahmen.
«Ein Fall von Hexerei obliegt der Kirche und nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit! Übrigens ist der Herr dieser Stadt ja auch das Oberhaupt der Kirche. Schon deshalb muss mir das Weib überantwortet werden! Sofort werde ich den Bischof um die Entsendung eines Inquisitors bitten», rief Abbé Grégoire, der seine Chance nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen wollte. Hatten ihn diese Weiber nicht schon
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