Die Ketzerbibel
ich.
Ich durfte dort bleiben, etwas essen und mich ausruhen. Im Morgengrauen gab die Frau mir einen Hanfsack zum Umhängen. Darin waren ein Brot, ein Messerchen und eine Zunderbüchse zum Feuermachen. Die Börse versteckte ich unter meinem weiten Rock. Sie war jetzt mein ganzer Besitz. Ich schlich mich davon, um den guten Leuten nicht zu schaden.»
«Wie hast du gelebt? Wie hast du zu essen bekommen? Wo hast du geschlafen?», wollten die Schwestern wissen.
«Am Anfang habe ich nach Arbeit gefragt. Doch wer würde jemandem Arbeit geben, der so aussah wie ich? Man sah ja ganz deutlich, was mir geschehen war. Später, als sich Schorf bildete und die verbrannte, abgestorbene Haut sich in Schuppen und Fetzen ablöste, da dachten sie wohl, ich hätte Lepra. Die Kinder sind schreiend vor mir weggerannt, und man schrie mir zu, ich solle gefälligst eine Rassel benutzen. Manchmal bewarf man mich mit Steinen. Der Inhalt der geschenkten Börse reichte nicht lange, aber mehr hatten sie mir nicht geben können. Wenn du als Bettler mit Silber erwischt wirst, dann meint jeder, du hättest es gestohlen. Nun,ich bin planlos immer weitergelaufen, immer nach Süden, nur fort von dem schlechten Wetter und der Kälte.
Ich habe gebettelt. Das musste ich erst lernen. Es ist eine Kunst für sich, wisst ihr?»
Danielle lachte ohne Heiterkeit. «Unterwegs habe ich andere Bettler getroffen. Einige waren feindselig und fürchteten, dass ich ihnen ihre Beute streitig machen oder erfolgreicher das Mitleid auf mich ziehen würde, so übel, wie ich zugerichtet war. Andere waren freundlicher und brachten mir das Handwerk bei.
‹Kannst du fromme Lieder singen? Nein? Flöte spielen, das ist immer gut. Auch nicht? Hm, dann musst du eben bedürftig aussehen›, sagten sie.
‹Aber jammere nicht zu sehr. Schau nicht zu elend drein, das mögen die Leute nicht. Dann fühlen sie sich unwohl und sehen woandershin. Du musst hungrig und ein bisschen traurig aussehen, dann greifen sie in die Börse. Und dann lächle ein klein wenig, ganz schüchtern – so … – und lobe sie: Ihr seid ein guter Mensch! Der Herr vergelt’s! Du musst genau das richtige Maß an Elend und Demut zeigen, dann geben sie gern und fühlen sich gut dabei. Manche, ja, die können auch richtige Plagen sein. Sie kreischen und weinen und greifen den Leuten an die Kleider, sodass sie geben, nur um die lästigen Gestalten loszuwerden. Aber du kannst das nicht, also versuch es gar nicht erst.› Sie hatten recht, und ich lernte, dass ein leerer Magen über den Stolz geht.
Und dann ist es gut, wenn man die Tage beachtet. Du musst den Kalender im Kopf haben! An Sonn- und Feiertagen und zu kirchlichen Festen, da versucht man es einzurichten, dass man sich an einer Klosterpforte aufstellen kann. Da gibt es dann Brot. Aber man muss sich umschauen, wer noch da ist. Es sind immer ein paar dabei, die nehmen den Schwächerendas Brot weg, sobald sich die Pforte geschlossen hat. Da heißt es zugreifen und dann schnell wegrennen. Und sich im Laufen den Mund vollstopfen. Schlafen tut man, wo es sich eben ergibt. In leerstehenden Schäferhütten, wenn man Glück hat; unter Bäumen, im Graben. Man muss darauf achten, dass es möglichst niemand sieht, wohin man sich legt, sonst kann es geschehen, dass man nachts bestohlen wird, oder es geschieht noch Schlimmeres, wenn du als Frau zu erkennen bist.
In den Städten, da sind die Bettler organisiert wie eine Zunft. Da musst du als Erstes herausfinden, wer der Chef ist. Den fragt man dann um Erlaubnis. Dafür muss man abends einen Teil vom Tagesverdienst abliefern. Ist man neu und fremd, bekommt man die schlechtesten Plätze, wo kaum jemand langgeht. Aber in den Städten bin ich nicht lange geblieben. Mich hat es immer weiter nach Süden gezogen. Und dann hat mich der Winter eingeholt.»
Gebba war unterdessen wieder hereingekommen. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.
«Oh, die armen Leute! Ich habe mir nie so recht bewusst gemacht, was sie zu erdulden haben», sagte leise Justine. «Und wie gemein die Welt sein kann.»
«Wenn ich es bedenke», sagte Danielle, «dann ist mir auf der Wanderung nicht nur Schlechtes begegnet, im Gegenteil: Viele Menschen haben mir geholfen. Merkwürdigerweise musste ich erst so tief fallen, um zu begreifen, dass es viel mehr Freundlichkeit in der Welt gibt, als ich gedacht hatte.
Da war der Fuhrmann, der anhielt und mich hinten auf der Ladefläche mitfahren ließ. Da war eine Marktfrau, die mir einen zerbrochenen
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