Die Ketzerbibel
finden lassen. Aber ich habe sie weggeschickt, und da hat sie versucht, die unerwünschte Schwangerschaft selbst zu beenden. Als es arg blutete, da bekam sie es mit der Angst und suchtediesen Arzt auf. Es gelang ihm, die Blutung zu stillen – das muss man immerhin sagen –, doch er überredete diese Frau, mich anzuzeigen. Erpresste sie, das ist eher wahrscheinlich. Er war einer meiner schärfsten Konkurrenten. Ich wurde vor Gericht gezerrt, und sie sagte gegen mich aus. Die Angst stand in ihrem Gesicht. Ich weiß nicht, was man ihr angedroht hat. Sie war Witwe und hatte sich mit einem verheirateten Mann eingelassen; es war ein großer Skandal.»
«Aber wie konnte sie dich beschuldigen, wenn du doch nichts damit zu tun hattest?»
«Aus Angst sicherlich. Sie war nun ausgerechnet bei dem Kollegen gelandet, der mich am meisten hasste, weil ich mich einmal über ihn lustig gemacht hatte und weil ich ihm die Gräfin von – na, lassen wir den Namen weg –, weil ich ihm eine sehr reiche und gute Patientin ausgespannt hatte. So jedenfalls sah er es. Dafür musste ich jetzt büßen. Bei der Verhandlung sagten auch Patienten gegen mich aus, die einfach ihre Rechnungen nicht bezahlen wollten. Ihr würdet überrascht sein, wie schnell die Ratten aus ihren Löchern kriechen, wenn eine erst einmal den Anfang gemacht hat. Es fanden sich andere Ärzte, die meine Eignung und meine Lizenz anzweifelten. Salerno war weit. Ich war ja nichts als eine verdächtige Ausländerin.»
«Gab es denn niemand, der für dich ausgesagt hätte? Wo waren all deine fürstlichen Gönner, wo war dein Verlobter?»
«Das traf mich am härtesten: Er war ein Feigling. Er löste die Verlobung sofort auf, damit kein schlechter Ruf auf ihn fallen sollte, und präsentierte bei der Gerichtsverhandlung eine junge Adelige als seine Verlobte. Und ich habe gehört, dass sein Vater ihn nach Bologna schickte, auf die dortige medizinische Fakultät, um ihn so weit wie möglich von mir zu entfernen. Als man mich nach Monaten im Kerkerschließlich herauszerrte, um mich öffentlich zu teeren und zu federn, da war keine Spur und keine Hilfe von ihm.»
Es war ganz still im Raum geworden. Teeren und federn. Wie das wohl war? Keine der Beginen getraute sich zu fragen, nicht einmal Annik.
«Ich wurde aus der Stadt gejagt und mein Vermögen eingezogen. Ich könnte euch nicht sagen, wie sich das angefühlt hat, nackt und mit heißem Teer übergossen, Gänsefedern, die an mir klebten. Der Schmerz, die Rufe, der Dreck, mit dem man mich bewarf, die Steine, ich habe kaum etwas davon gefühlt, als ich durch die Straßen rannte. Ich rannte und rannte und hatte nur Angst, und ich schämte mich entsetzlich! Irgendwann erreichte ich ein Stadttor und rannte hinaus, in südlicher Richtung, einem inneren Streben nach. Inzwischen war es dunkel geworden, und ich fand mich auf der Landstraße wieder. Es war wieder später Herbst, an der Schwelle zum Winter und schon empfindlich kalt. Da hörte ich hinter mir Hufschlag. Ich dachte, dass sie noch nicht genug hatten und mich einer von ihnen verfolgte. Aber ich war zu erschöpft, um noch zu laufen. Mein Verfolger holte mich rasch ein.»
Die Schwestern saßen unbeweglich da, klebten an ihren Stühlen. Annik kaute an einem Fingernagel. Manon knüllte einen Zipfel von ihrem Kittel in den Händen, ohne es zu merken.
«Er holte mich ein und warf mir eine Decke zu. ‹Da! Verhüllt Euch! Habt keine Angst vor mir. Ich bin geschickt worden, um Euch zu helfen. Kennt Ihr mich nicht? Ich bin Jean-Marie.› Ich bedeckte mich notdürftig. Da hob er mich hinter sich auf den Gaul. Wie sich herausstellte, war er der Leibdiener eines meiner wohlhabenden Patienten. Er bracht mich zu einer Hütte, wo seine Mutter mich in Empfang nahm. Sie war Torhüterin auf dem Landsitz meines Patienten.Sie half mir, mich zu waschen, den Teer mit Butter abzureiben und meine Wunden notdürftig zu behandeln. Ohne das hätten die Verbrennungen, die ich erlitten hatte, sich sicher infiziert, oder ich wäre an Hunger und Kälte gestorben. Als ich einigermaßen gesäubert war, gab sie mir Kleidung, einfach, aber warm, und festes Schuhwerk. Der Diener überreichte mir eine kleine Börse mit einer Menge Kupferstücke darin.
‹Mein Herr glaubt nicht, was über Euch gesagt wurde. Er bittet Euch um Vergebung, dass er nicht mehr tun kann›, sagte er.
‹Es ist schon gut. Sag ihm, ich bin ihm sehr dankbar. Gott möge es ihm und seiner Familie vergelten!›, antwortete
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