Die Ketzerbibel
denken! Aber wenn seine Gegenwart ihr guttut und ihre Gegenwart ihm guttut – das kann doch nicht schaden, oder? Lassen wir sie in Ruhe!» Magdalène packte die kleine Küchenfrau bei den Schultern und schob sie wieder hinein.
«Sie waren aber ganz frisch», sagte gerade Danielle.
«Wie?»
«Die Nüsse. Sie waren frisch vom Baum.»
Carolus schaute sie von der Seite an.
«Ach nichts. Ich habe mich an andere Nüsse erinnert, die ich einmal gegessen habe.»
«Wo war das?», fragte Carolus plötzlich sehr interessiert.
Danielle machte eine Handbewegung: «Irgendwo im Norden.»
«Die Nüsse waren frisch, also wart Ihr im Herbst im Norden. Wie weit im Norden? Erinnert Ihr Euch an einen Namen, eine Stadt?» Er betete die Namen der großen Städte her, die an den Handelsstraßen lagen: «Lille inmitten von Weinfeldern, Cambrai – es ist dort alles voll mit Webereien und Tuchläden, vor den Türen sitzen die alten Frauen und klöppeln Spitzen –, die Kirchenstadt Arras; Rouen: Salzhandel, Austern und Fische? Nein?»
Danielle schüttelte den Kopf.
«Reims – eine gewaltige Kathedrale, erst vor zehn Jahren fertiggestellt, die dreischiffige Basilika, die Westfassade so reich mit Reliefs und Figuren verziert, mit Faltenwurf, sodass Ihr den Wind sehen könnt, der ihnen in die Kleider fährt daoben …» Er kam ins Schwärmen: «… über jeder Figur ein Baldachin aus Stein, und innen Netzgewölbe, die hoch in den Himmel streben, ja gleichsam den Himmel auf die Erde herunterbringen. Alle Formen und Verhältnisse sind perfekte Mathematik, die Musik des Göttlichen spricht dort zu einem … wenn Ihr dort gewesen wärt, könntet Ihr es nicht vergessen haben. Dijon, spezialisiert auf Senf? Nichts?»
Danielle war auf der Bank nach vorn gerutscht, saß nur noch halb, auf dem Sprung.
«Paris? Die Kathedrale Notre Dame, an der seit zweihundert Jahren gebaut wird, mit ihren beiden mächtigen Türmen und der Fensterrose, die das Tageslicht verwandelt in ein violettes und purpurnes Mysterium! Die Seineinseln, die Häuser auf den Brücken, die Mühlenräder unter der Mühlenbrücke? Und die Studenten in ihren bunten Kleidern auf dem linken Ufer, Saint Germain, die Buchläden und die Kopistenwerkstätten …»
Fast zornig schüttelte sie den Kopf und sprang auf. «Genug für heute!» Und verschwand in der Webstube.
«Paris», murmelte Carolus. Ob er wohl seinem Bekannten an der Sorbonne schreiben sollte? Unwahrscheinlich, dass der etwas wusste. Paris war eine so große Stadt! Aber in der Not griff man eben nach jedem Strohhalm.
7.
Lang liegt die Straße vor ihr wie ein ausgerolltes Band. Jede Meile bringt Abstand zwischen sie und das, was geschehen ist. Jeder Tag bietet einen neuen Anblick. Die Häuser haben sich verändert: Die Dächer sind flacher, die Fenster kleiner, Säulen schmücken die Eingänge der großen Höfe. Anbauten wuchern kreuz und quer, wo im Norden alles sich zusammendrängt, um der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Menschen haben sich verändert: Sie sind kleiner, gedrungener, viele von ihnen haben die schwarzen Haare, schwarzen Augen und die heftigen Gesten, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Die Pflanzen haben sich verändert: Schwarze Zypressen säumen die Auffahrten statt Pappeln. Tannen, Schwarzkiefern und Heide haben Besenginster, Schirmpinien, flammendem Brautschleier und bläulichem Wacholder Platz gemacht. Die Luft hat sich verändert: Sie ist milder, weicher und duftet selbst so spät im Jahr noch süß. Sie hat sich verändert: Die Wunden sind verschorft, die Haare beginnen stoppelig nachzuwachsen. Ihr Körper ist mager und sehnig geworden, die Augen riesig in dem ausgehungerten Gesicht. Die Schuhe sind längst auseinandergefallen. Lappen um ihre Füße haben sie ersetzt. Sie hat Lyon erreicht, wo sich die Ströme treffen, die Saône und Vater Rhône. Die Halbinsel liegt im Abendlicht vor ihr, mit ihren großen Handelshäusern, den Schiffen, den Anlegestegen und Seilwinden, die aus den Dachluken der Lagerhäuser ragen. Es sind zu viele Menschen dort unten. Unentschlossen schaut sie dem Treiben zu, von ihrem einsamen Aussichtspunkt unter einer vom Wind gebeugten Pinie. Da entdeckt sie eine Herberge am linken Ufer. Es ist eine einfache Herberge für Bauern und Hausierer. Die reichen Handelsherren übernachten
in der Stadt, dort, wo es Dienste und Vergnügungen aller Art zu kaufen gibt.
Niemand nimmt von ihr Notiz, als sie den Schankraum betritt. Der Boden ist
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