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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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in welchem Organ?», fragte Carolus. «Ich habe an der Sorbonne gelernt, dass die Seele in den Eingeweiden beheimatet ist»
    «Nein, nein! Das ist ganz falsch, Bruder! Sie sitzt in der Kehle!», rief Basilio. «In der Bibel steht vielfach zu lesen, dass der Geist, also die Vernunftseele, dem Menschen von Gott eingehaucht wurde, also auf demselben Weg wie der Odem.»
    «Übrigens», warf Athanasius ein, «heißt das hebräische Wort
‹nafäsch›
für Seele auch ursprünglich ‹Kehle›!»
    «Andererseits, wenn ich es recht bedenke, müsste die Seele eher in der Lunge zu finden sein, denn das ist der Ort, an den der Lebensodem geht. Hebt und senkt sich die Brust nicht mehr, dann ist die Seele gewichen und der Körper ist nur mehr eine Hülle. Das habe ich oft gesehen. Behandelt die Lunge!»
    «Was für eine simple Vorstellung! Sagt nicht Thomas von Aquin, dass die Seele Form ohne Materie ist und nur deshalb unsterblich?! Man kann doch etwas Göttliches wie die Seele nicht mit Pflastern behandeln oder mit einem Aufguss aus Salbei», ereiferte sich der Bibliothekar. «Das stellst du dir zu einfach vor, mein lieber Basilio! Nein, nein, so geht das nicht.»
    «Aber wenn es eine Form der Traurigkeit ist, dann versucht es doch einmal mit Süßigkeiten. Ich habe beobachtet, dass die Traurigkeit, die meine Brüder im Winter befällt, mitHonigkuchen oder Mandelkonfekt gelindert werden kann», erwiderte Basilio.
    «So einfach kann es nicht sein. Sie wird bei den Beginen gut genährt und bekommt auch süßes Kompott, Latwergen und Ingwerkuchen. Das hat aber alles nichts bewirkt», mischte Carolus sich ein. «Ich habe auch eine Menge gelesen von unangenehmen mechanischen Heilmethoden, die eigentlich nur auf den Körper zielen: Fesseln, Folter, plötzliches Untertauchen, Klistiere und Aderlässe.»
    «Wie man hört, hat es unser tapferer Abbé Grégoire ja mit dem Untertauchen auch schon versucht!»
    «Was ihren Zustand übrigens in keiner Weise gebessert hat», gab Carolus zu bedenken, «und auch Hippokrates hilft mir wenig, da er alle Störungen auf das Ungleichgewicht von Säften zurückführt. Ihr sagt mir aber, die Seele sei unkörperlich – und das denke ich auch. Übrigens leidet sie ja nicht an Traurigkeit,
Melancholia
, einem Übergewicht von schwarzer Galle. Nein, sie scheint meist ganz heiter und gelassen. Es ist allein ihr Gedächtnis, das betroffen ist.»
    «Das Gedächtnis oder das Erinnerungsvermögen? Wir müssen genau sein», bemerkte Athanasius. «Ich habe hier eine Abhandlung des genialen, wenn auch leider heidnischen Aristoteles: ‹Über Gedächtnis und Erinnerung›. Wo war es noch gleich   …» Er beugte sich tief über die Seiten des Codex und nahm wieder den Finger zu Hilfe: «Aha! Hier sagt er, das Gedächtnis sei nur indirekt eine Fähigkeit des Denkens, eher eine Funktion der allgemeinen Wahrnehmung, die wiederum auch Tiere besitzen.»
    Er richtete sich auf und grinste Calixtus an: «Erinnerst du dich an den Köter, den du mal hattest, Calixtus?»
    Calixtus lachte. «Ja, da war so ein wilder Hund, der sich immer in der Nähe der Kirche Saint Pierre herumtrieb. Nachdem ich ihm ein paarmal Futter gebracht hatte, verbander meinen Anblick so sehr mit Nahrungsaufnahme, dass ihm der Speichel immer schon herunterlief, wenn er meiner ansichtig wurde. Aber ist das nun Gedächtnis, oder handelt es sich um Erinnerung? Und was ist denn nun der Unterschied?»
    «Hört zu!», rief Athanasius mit triumphierender Stimme: «Hier steht es nämlich: ‹Wenn man das Wissen oder die Wahrnehmung, die man früher hatte, wiedererlangt, dann ist dies Erinnerung   … Weiter sagt er hier: ‹Erinnerung muss auf einem Prinzip gründen, das höher ist als das, von welchem ausgehend man sich zu erinnern lernt.›
    Es ist also ein willentlicher Prozess. Der Gegenstand des Gedächtnisses ist eingeprägt als ein Abdruck des Seienden und daher immer noch vorhanden. Wie aber kann man darauf wieder zugreifen? Es ist Euch doch auch schon begegnet, dass ihr Euch an etwas zu erinnern wünscht, von dem Ihr genau wisst, dass es vorhanden ist, in Wirklichkeit und als Abbildung. Aber manchmal kann man es nicht aufspüren – so wie einen Gegenstand, den man verlegt hat. Man weiß, dass er vorhanden ist, aber man findet ihn nicht.»
    «Aristoteles rät die Erinnerung in Form der Bewegung anzustoßen. Von einem Gegenstand zum anderen   …», er vollzog mit den Fingern eine hüpfende Bewegung auf der Tischplatte. «Vom Korn zum Huhn zur

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