Die Ketzerbibel
Trévaresse in einem staubigen Orange aufglühen. Die Schatten drangen schon tief in die Schluchten hinein. Vom Pflaster stieg der Gestank von Unrat auf und vermischte sich mit dem Geruch des Salpeters in den Mauern, den Kochdünsten und dem Rauch der Herdfeuer. Gemächlich zuckelte das Maultier durch die Straße der Seiler. Der Mönch hatte seine Kapuze übergezogen, obwohl es immer noch drückend heiß war. Unter der schwarzen Kapuze hervor schossen seine stechenden Augen hierhin und dorthin und in alle Winkel.
‹Das Nest ist zu groß, um sich vor den suchenden Augen der Inquisition zu verstecken›, dachte er. ‹Und es ist zu klein, als dass die Pestilenz des Ketzertums in der Anonymität gedeihen könnte. Ich glaube nicht daran, dass man hier etwas besonders Verabscheuungswürdiges finden wird, über die üblichen menschlichen Gemeinheiten hinaus: Eitelkeit, Käuflichkeit, Betrug, üble Nachrede, Hurerei und Ehebruch, Gier, Diebstahl, Gewalttätigkeit. Alles ganz normal. Danach suchen wir nicht. Wir suchen nach den Verirrungendes Geistes und nach jenen, die dem Heiligen Vater den Gehorsam verweigern.›
Es war etwas an ihm, das die Kinder im Spiel innehalten ließ und den Erwachsenen ein instinktives Schuldbewusstsein einflößte. Eine sehr nützliche Eigenschaft für einen wie ihn.
Vor dem Haus des Abbé stieg er ab. Die Haushälterin sah ihn kommen und rannte, um ihren Herrn zu holen. Abbé Grégoire erkannte ihn sofort als das, was er war: ein Agent der allmächtigen Inquisition. Hier war ein Mann von absoluter und unbeugsamer Rechtschaffenheit, ein Mann, ungehemmt von Hoffnungen, Gefühlen, Eitelkeiten; ein Mann ohne Schwächen und ohne Gnade, perfekt und daher zu fürchten. Sein Besuch war eine Ehre und ein Schrecken. Der Abbé verbeugte sich unterwürfig und bat ihn in sein Arbeitszimmer.
«Eine Erfrischung? Wein, Brot, Pasteten, kaltes Geflügel, Obst …?»
«Später. Zunächst ein wenig frisches Wasser, das genügt.»
Die Magd brachte einen Krug und einen Zinnbecher und eilte hinaus, ängstlich, die Augen niedergeschlagen.
«Der Heilige Vater lässt Euch grüßen und Euch ausrichten, dass er Euren Eifer schätzt.»
Der Abbé wollte schon in Dank ausbrechen, doch der Mönch hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen: «Eifer ist gut, aber nehmt Euch in Acht vor Übereifer. Ich hoffe, Ihr seid nicht übereilt vorgegangen?»
«Ich habe eine Ketzerpredigt gehalten und begonnen, Beweise zu sammeln.»
«Das war voreilig, aber nun gut. Jetzt müsst Ihr das Beste daraus machen. Wisset, dass seine Heiligkeit für das nächste Jahr in Vienne ein Konzil plant. Der Armutsstreit, der unsere Kirche spaltet, ist seine große und ständige Sorge. Er hofft,auf diesem Konzil endlich Frieden unter unseren Brüdern zu schaffen. Außerdem bereiten ihm die Beginen und Begarden Kummer, die unter den Fittichen der Fratres Minores hervor viele schlimme Irrtümer verbreiten. Am liebsten würde er diese Pestilenzia ganz ersticken. Er bittet dich deshalb, sehr sorgfältig nachzuforschen und zu dokumentieren, was diese Beginen tun und sagen. Hier ist eine Liste von Fragen, die du ihnen stellen solltest. Unter Eid. Da sie sich ja für gottesfürchtig halten, werden sie sich dann entweder weigern zu schwören und sich damit entlarven oder aber die Wahrheit sagen und ihre abgründigen Vorstellungen offenbaren!»
Der Abbé las die Liste. Er hatte sich mehr um Störungen der Sittlichkeit gekümmert und darum, den
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die einträglichen Totendienste abzujagen. Die Weberzunft hatte ihm in den Ohren gelegen und die Ehemänner, die fürchteten, ihre Weiber an die Beginen zu verlieren, so wie es Maudru fast ergangen wäre.
«Hm, von diesen Dingen habe ich sie nie reden hören. Und sie kommen auch pünktlich zweimal am Tag in die Kirche. In dieser Beziehung habe ich ihnen nichts vorzuwerfen.»
«Dummkopf!», zischte der Mönch. «Natürlich rennen sie nicht in die Kirche und predigen ihre Abartigkeiten direkt unter deiner Nase! Nein, du hast es hier mit Schläue und Bosheit zu tun. Sie wollen nicht gestehen und verbergen ihr Tun und Denken unter scheinbarer Frömmigkeit! Halte dich nur an die Fragen, dann wird es schon ans Licht kommen!»
Als die sieben Tage Gnadenfrist verstrichen waren, wurden die Beginen zur Befragung vorgeladen. Eng aneinandergedrängt gingen sie durch die Stadt, teils mit ängstlichen Gesichtern, teils mit erhobenen Köpfen. Die Bürger standenin den Haustüren und schauten aus den Fenstern.
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