Die Ketzerbibel
Porete.»
«So?! Gerade eben hast du uns noch glauben machen wollen, du habest von dem Buch nur gehört. Willst du nicht aufhören zu lügen und Ausflüchte zu gebrauchen? Ist es also wahr, dass du die Irrlehren der Ketzerin verbreitet hast? Hast du mit dieser Frau darüber gesprochen, wie sie sagt?»
«Ja. Ich habe mit ihr über das geredet, was ich gelesen hatte, weil ich dachte, sie sei eine vernünftige Frau. Ich gebe zu, ich war von dem Buch ergriffen und habe mich zu Schwärmerei hinreißen lassen. Wenn das falsch war und es diese Frau verwirrt hat, dann bitte ich um Vergebung und nehme meine Strafe auf mich.»
Der Mönch flüsterte wieder mit dem Abbé und sagte dann:
«Hast du nicht behauptet, die vollkommene Seele sei von den Tugenden befreit?»
«Nein, das habe ich nicht gesagt, und so steht es auch nicht in dem ‹Spiegel›», verteidigte sich Anne.
«Was steht denn da über die Tugenden?»
«Dass sich die Seele in Furcht bemühen soll, die Gebote zu halten, besonders das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe.»
«Das ist nur der erste Zustand von sieben, die in diesem Buch beschrieben werden!», sagte jetzt der Mönch mit eisiger Stimme. «Heißt es nicht in der zweiten Stufe, dass man auf Gehorsam gegenüber anderen verzichten soll?»
«Das werdet ihr besser verstanden haben als ich unwissendes Weib. Ich habe weder meiner Meisterin noch dem Abbé je den ihnen zustehenden Gehorsam verweigert.»
«Aber du meinst, dass es angemessen wäre auf diesem angeblichen Weg zur Seligkeit», bohrte er weiter.
«Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. So steht es in der Bibel, und daran halte ich mich», sagte Anne.
«Mit welcher Frechheit sie mit Bibelsprüchen um sich werfen und sie für sich auslegen, wie es ihnen passt», murmelte der Mönch halblaut vor sich hin, «das hat man davon, wenn man Bibelübersetzungen in die gemeine Sprache zulässt.» Laut fuhr er fort:
«Da sieht man wieder, mit welcher Schläue und welchen Schlichen die Ketzer sich herauszuwinden suchen. Aber lassen wir doch die Zeugin wiederholen, was genau diese Begine gesagt hat.»
Die Wollweberin Aneta war guten Willens. Sie trat vor, warf Anne einen giftigen Blick zu und begann mit sichtlicher Anstrengung: «Sie hat gesagt, dass man sich in Tugenden nur üben muss, wenn man nicht, wenn nicht …»
‹Dummes Stück›, dachte Grégoire erbost. Tullo hatte sie zu ihm geschickt, und er hatte zwei Stunden darauf verwandt, ihr Marguerite Poretes verwerflichste Thesen einzubläuen, aber sie hatte sie nicht einmal annähernd begriffen.
«Wenn man nicht Tugenden hat, dann muss man sich inihnen üben, wenn man sie hat, dann muss man nicht mehr üben», brachte die Weberin den Satz mühsam zu Ende.
Marius und Bonnefoy brachen in Gelächter aus. Julianas Mundwinkel zuckten.
Der Mönch blickte ärgerlich und verächtlich. Damit war nun wirklich nicht viel anzufangen. «Ist das alles, was Ihr zusammenbekommen habt?», zischte er dem Abbé zu. Er war zutiefst erzürnt. Jetzt blieb also nur noch der strafbare Besitz einer verbotenen Schrift.
«Wo ist dieses Buch jetzt?», bellte er.
Anne schwieg verstockt.
Juliana sprang auf: «Sie besitzt es nicht mehr. Ich habe es verbrannt, nachdem wir gehört haben, dass es für ketzerisch befunden wurde.»
Mit einem Ruck fuhr Anne herum und schaute Juliana entgeistert an. ‹Das hast du nicht!›, sagten ihre Augen. ‹Das hast du nicht gewagt!›
Juliana gab ihren Blick fest und energisch zurück. «O ja, das habe ich!»
«Aber du hättest es weiterhin behalten, wenn deine Meisterin nicht eingegriffen hätte», sagte der Fremde.
«Ich sehe nicht, wohin diese Befragung noch führen soll», protestierte Jean de Meaux. «Ganz offensichtlich ist doch nichts Schlimmeres geschehen, als dass Anne ein Buch gelesen hat, als es noch nicht verboten war, und es vielleicht ein wenig länger behalten hat, als es streng genommen erlaubt gewesen wäre. Doch da es nun ordnungsgemäß vernichtet worden ist, denke ich, dass man auf eine Bestrafung verzichten kann.»
«Komm zu mir zur Beichte, und ich werde dir eine Buße auferlegen», knurrte der Abbé enttäuscht.
Erleichtert nickte Anne und setzte sich wieder in die Bank zu ihren Schwestern.
Auda wurde nach vorn gerufen. Auch diesmal begann der Abbé mit der Befragung.
«Ist es wahr, dass du aus jenem Beginenhaus in Toulouse stammst?»
«Ja, das ist wahr.»
«Diese Frauen sind für Ketzer befunden worden. Sie haben öffentlich
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