Die Ketzerbibel
Ganz Pertuis wusste Bescheid.
Ein alter Mann spuckte ihnen vor die Füße, als sie vorübergingen, je eine Stadtwache vor und hinter dem Zug. «So ist es recht! So ist es recht!», keifte er.
«Jetzt kriegt ihr, was ihr verdient habt!», rief eine Frau aus dem Fenster.
Die Mauern verströmten Raubtiergeruch.
«Was wollt ihr denn? Es sind fromme Frauen, und sie haben nie etwas anderes als Gutes getan!», riefen andere. «Warst du es, die sie angeschwärzt hat, Céline? Schäm dich!»
«Es sind gute Menschen!»
«Nur Mut!»
«Es ist eine Schande, sie so vorzuführen!»
«
Courage
, Juliana, wir sind mit euch!», erklang es von allen Seiten.
Anniks Sohn, derselbe, der die Melonen gebracht hatte, war eigens in die Stadt gekommen und lief besorgt neben seiner Mutter her, die er um zwei Köpfe überragte.
«Maman, ich lasse nicht zu, dass sie dir was tun. Du hast uns so erzogen, wie es recht ist. Du hast uns das Beten beigebracht, warst eine gute Mutter und Ehefrau, bis Vater gestorben ist. Dir können sie nichts vorwerfen», tröstete er sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
Die Beginen wurden direkt ins Schloss geführt. Es war eher eine Burg, klotzig, mehr stark als schön mit ihren dicken Mauern in der Form eines schiefen Rechtecks, den vier runden Wachtürmen an den Ecken und dem
donjon
, dem Wohnturm in der Mitte, der einer aufgereckten Faust ähnelte. Das Gebäude wurde beharrlich «
La domo nova comitis
» genannt, «des Grafen neues Haus». Graf Guillaume II. von Forqualquier hatte es schon vor mehr als hundert Jahren bauen lassen, gerade gegenüber der Kapelle Saint Nicolasund in Augenhöhe des Benediktiner-Klosters, um ein augenfälliges Gegengewicht zum Einfluss der Mönche zu setzen, mit denen sich die Grafen der Provence seit eh und je um die Vormacht in Pertuis stritten. In den Augen der Bürger hatten jedoch die Mönche das letzte Wort, indem sie jedes Mal, wenn im Kloster ein neuer Abt gewählt worden war, einen ihrer schwarzen Kapuzenmäntel auf der Spitze des Donjons hissten. So war es Brauch. Der Abbé hatte als Ort für die Verhandlung mit Bedacht den Gerichtssaal des Seigneur erwählt, denn so konnte er seiner absoluten Vollmacht Ausdruck verleihen: Die Inquisition, so wollte er damit zeigen, stünde über der normalen Gerichtsbarkeit. Hier waren Kirche und weltliche Gerichtsbarkeit ein und dasselbe.
Stolz thronte der Abbé auf einer Plattform in dem prächtig geschnitzten und mit Jagdszenen bemalten hohen Stuhl des abwesenden Seigneur, zu seiner Rechten saß der unbekannte Mönch, der sich auch nicht vorstellte und die Anwesenden mit durchdringenden Blicken musterte. Zur Linken saß Jean de Meaux, der Abt der Franziskaner, daneben mit gelangweiltem Gesicht Didier de Bonnefoy, der Vogt; unterhalb der hölzernen Bühne hatten die Ratsherren Platz genommen, Mestre Marius de Vidal und Mestre Honorat Tullo von der Wollweberzunft. Etwas seitlich stand ein Benediktiner als Protokollant an einem Pult.
In der Anklagebank saßen Juliana, Anne, Auda, Annik und Danielle sowie die Katze.
Die Beginen wurden nacheinander aufgefordert, den Eid zu schwören. Garsende, die ganz in der Nähe saß, fing an zu heulen: «Danielle, verzeih mir bitte, ich wollte euch nicht schaden. Ich hätt auch kein Sterbenswörtchen gesagt, aber Maudru hätte mich sonst totgeschlagen!» Die Haut um ihr Auge schillerte in Violett, Grün und Gelb.
«Ich verzeihe dir. Sei ganz ruhig. Es wird ja alles gut», tröstete sie Danielle flüsternd und wurde sofort zur Ordnung gerufen:
«Was fällt dir ein, hier jemandem Vergebung erteilen zu wollen, der seine Christenpflicht erfüllt hat! Wofür hältst du dich?»
Garsende schnäuzte sich in ihren Rock. Ihr Schluchzen ging in einen nervösen Schluckauf über.
Juliana wurde aufgerufen. Ohne zu zögern, schwor sie auf die Bibel, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.
«Nach welchem Beispiel sind eure Regeln ausgerichtet?»
«Nach der Regel des heiligen Franziskus.»
«Aber nicht in allen Teilen!»
«Nein, denn wir sind ja kein kirchlicher Orden, sondern nur eine Gemeinschaft von einfachen Frauen, die sich bemühen, ein Gott gefälliges Leben zu führen.»
Die darauffolgende Befragung über die Hausregeln langweilte den fremden Mönch. Er zischte etwas ins Ohr des Abbé.
«Denkst du oder hast du jemanden sagen hören, in deiner Gemeinschaft oder unter den Franziskanern oder sonst wo, dass Geistliche, die wertvolle Gewänder tragen, gegen Jesu Gebote
Weitere Kostenlose Bücher