Die Ketzerbibel
Kirchplatz kommt. Ihr erkennt das Gebäude an dem steinernen Kopf mit der Narrenmütze, der über den Haupteingang gemeißelt ist. Wenn ihr meinen Sohn verpassen solltet, dann schicke ich ihn in euer Hospital!»
«Vielen Dank,
adessias
!»
Es wurde schon dunkel, als sie die bezeichnete Straße erreichten. Die meisten Menschen waren zu Bett gegangen. Nur in wenigen Fenstern flackerte noch Kerzenlicht. Auf dem Marktplatz gegenüber der Kirche Saint Nicolas hielten sie an. Danielle mühte sich mit Flintstein und Zunder, um die kleine Öllampe für den Weg anzuzünden. Schwarz und massig ragte die Kirche vor ihnen auf. Wolkenfetzen trieben darüber hin. Die Glocke im Glockenturm schlug im Windan, ganz sachte nur, ein hoher dünner Klang, fast wie ein Seufzer. Philippa bekreuzigte sich.
Plötzlich tauchte eine düstere Gestalt vor ihnen auf. Die beiden Frauen erstarrten.
«Was sucht ihr Weiber auf der Straße in der Nacht?», wurden sie barsch angesprochen.
Endlich fing der Zunderschwamm Feuer. Die Lampe leuchtete auf und warf ihr flackerndes, ungewisses Licht auf das Gesicht der Gestalt.
«Abbé Grégoire! Der Heiligen Jungfrau sei Dank! Wir suchen den Medicus. Magdalène ist schwer erkrankt. Wir brauchen Hilfe!», sagte Danielle.
«Dann kommt. Ich weiß, wo er ist!» Der Abbé ging im Sturmschritt voraus, und die beiden Frauen mussten rennen, um ihm folgen zu können. Er brachte sie zum Haus eines Patriziers. An der Tür wurden sie schroff abgewiesen:
«Mein Kind ist krank! Der Medicus kann jetzt nicht mit euch kommen», rief die Dame des Hauses und warf ihnen die Tür vor der Nase zu. Doch der Abbé klopfte erneut, und als die Dame ihn im Schein der Laterne erkannte, ließ sie sich dazu herbei, den Arzt zu holen.
Carolus hörte sich nur kurz an, worum es ging, und verabschiedete sich dann umgehend von der hohen Dame.
«Aber mein Kind! Mein armes Kind leidet so! Ihr müsst Nachtwache bei ihm halten!», rief die Frau empört.
«Nein, meine Beste. Es hat sich nur an Süßigkeiten überfressen! Wie gewöhnlich! Das nächste Mal gebt ihm ein Abführmittel und lasst mich in Ruhe!», antwortete Carolus. «Kommt, schnell», sagte er halblaut zu Danielle. «Es ist nicht zu glauben, mit was für einem Unsinn ich meine Zeit vertrödeln muss, wenn woanders Schwerkranke sind, die meiner viel dringender benötigen!» Die Patrizierfrau schaute ihnen empört hinterher.
Carolus eilte direkt ins Hospital. Dort hatte man Magdalène auf ein freies Bett gelegt. Carolus sah sich den Arm an und rief sofort nach Jeanne: «Habt Ihr die Wunde etwa ausgestopft?», fragte er aufgebracht.
«Ja, natürlich! Was ist denn falsch daran?»
«Das Fleisch darunter fängt an zu faulen! Das ist falsch! Habe ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt nur lose ein Tuch darumbinden?»
«Ja, aber ich habe gedacht, eine nässende Wunde muss man zuerst trockenlegen! Basilio hat es mir so beigebracht», entgegnete Jeanne kleinlaut.
«Das ist längst überholt! Basilio ist alt. Heute lehrt man das anders. Merkt es Euch für das nächste Mal! Die Wunde muss Luft haben. Der Eiter sollte fließen und nicht unterbunden werden, denn er transportiert die schlechten Säfte nach draußen. Das Fleisch darf niemals derart abgeschnürt werden», dozierte Carolus.
Kleinlaut ließ Jeanne die Arme hängen.
«Nun schaut nicht so, Ihr konntet es ja nicht wissen. Es ist zu dumm, dass man die Frauen nicht richtig ausbildet, wenn sie nachher als Hebammen oder Krankenschwestern arbeiten sollen.»
Danielle war in der Küche verschwunden, um das Herdfeuer anzufachen und einen Kessel Wasser anzusetzen. Wenig später kam Jeanne hinzu. «Hast du kochendes Wasser? Gut gemacht. Hier hast du …»
«… Eisenkraut», beendete Danielle den Satz, «ich habe es mir schon aus der Apotheke genommen!» Sie wickelte das Kraut in ein Leintuch, kochte es auf und gab es Jeanne. Danielle blieb in der Küche und setzte frisches Wasser auf. «Was tut er», wollte sie wissen.
«Er hat die Wunde noch einmal gereinigt und setzt Fliegenmaden darauf. Brrr! Er behauptet, sie würden das verdorbeneFleisch fressen. Ich hoffe, er weiß, was er da tut! Diese Viecher fressen sie noch auf!», erwiderte Jeanne.
Danielle nickte zufrieden. «Er macht es richtig. Die Maden fressen nur das kranke Fleisch. Sobald sie auf gesundes stoßen, hören sie auf und fallen ab.»
«Ist das so? Pfui, ich finde es trotzdem abstoßend!» Sie schüttelte sich. «Und woher weißt du das?»
«Ich habe das schon einmal
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