Die Ketzerbibel
hast du ihr kalte Wickel um die Beine gemacht?»
«Nein. Ich habe geschlafen», sagte Justine zerknirscht. «Ich wollte, ich wäre es gewesen. Aber ich habe sie nicht berührt.»
Carolus wurde geholt.
«Es geht ihr tatsächlich besser!», sagte er. «Das grenzt an ein Wunder.» Da entdeckte er auf dem Tisch ein Schälchen mit einer weißlichen Paste. «Was ist das?»
Jeanne trat hinzu und besah es sich. «Ich habe keine Ahnung. Es ist ein Schälchen aus der Apotheke, ich erkenne es, doch dieses Zeug …» Sie roch daran, steckte einen Finger hinein und leckte vorsichtig daran. Sofort spie sie aus. «Ungelöschter Kalk und Honig! Man kann damit verdorbenes Fleisch wegätzen. Sehr gefährlich, wenn man es nicht genau dosiert!»
«Und was ist das für ein Pulver, mit dem die Wunde bedeckt wurde?» Carolus beugte sich über Magdalènes Arm und schnüffelte daran. «Es riecht nach … nach Schimmel, nach gewöhnlichem Brotschimmel! Ich habe gehört, dass er nützlich sein soll. Angeblich haben es die römischen Ärzte bei verwundeten Soldaten verwendet – hm! Schimmel! Ich habe diesem Gerücht nie getraut. Es schien mir doch zu unsauber. Aber – kein Zweifel: Es hat geholfen. Und da ist nochein Briefchen mit dem Pulver. Seid ihr ganz sicher, dass ihr nicht wisst, wer das getan hat?»
Sie schüttelten alle den Kopf.
«Das ist merkwürdig und höchst sonderbar. Aber ein Engel hätte ihr die Hand aufgelegt und ein Wunder bewirkt. Ich habe noch nie von einem Engel mit chirurgischer Ausbildung gehört! Und das hier, das hat ein Arzt getan, ein besserer Arzt, als ich es bin.» Nachdenklich schüttelte er den Kopf. «Aber wer? Wer um alles in der Welt könnte das gewesen sein?! Du schwörst mir auf die Bibel, Jeanne, dass du es nicht warst und auch keine deiner Helferinnen? Auda vielleicht? Sie kommt aus dem Languedoc. Vielleicht handhabt man dort die Dinge anders als bei uns …»
«Nein, nein! Ich habe alle befragt. Außer Auda und mir hat hier niemand medizinische Kenntnisse. Und wir zwei waren es nicht!»
«Ich wünschte, ich könnte mit diesem – hm – ‹Engel› sprechen. Was gäbe ich nicht für eine sichere Arznei, um Wundbrand und Infektionen zu verhindern!», sagte Carolus nachdenklich.
Er wies Jeanne an, das Pulver weiterzuverwenden, obwohl er nicht genau wusste, worum es sich handelte. Wer würde sich schon die Mühe machen, eine Kranke erst zu pflegen und sie danach doch noch zu vergiften? Danach würde man weitersehen.
«Aber ich wüsste doch zu gern, wie dieses Wundpulver hergestellt wird. So etwas könnte ich gut gebrauchen. Vielleicht jemand von draußen?»
«Niemand ist im Hof gewesen! Ich bin zwar eingeschlafen, wie ihr alle», meldete sich Alix. «Aber ich hatte meine Haxen quer vor der Tür. Wenn jemand sie geöffnet hätte, dann hätte ich es gemerkt.» Das war nämlich ihre Gewohnheit, weil sie immer schlief, wenn sie Tordienst hatte.
«Hier, Doktor Carolus! Da, seht! Das habe ich in der Küche gefunden!» Annik drängte sich in den kleinen Raum. Misstrauisch und mit spitzen Fingern trug sie ein Bündel Kräuter vor sich her. «Zeig her.» Er nahm ihr die Kräuter ab und untersuchte sie im Licht am Fenster. «Das sind alles fiebersenkende Kräuter und solche, die allgemein die Konstitution stärken, soweit ich sie identifizieren kann. Verwendet sie ruhig und kocht ihr einen Aufguss daraus, von dem sie so viel wie möglich trinken soll, damit die Giftstoffe ausgespült werden.»
«Ich möchte bloß wissen, warum ich so lange und so tief geschlafen habe», wunderte sich Anne. «Das ist mir doch noch nie passiert!»
«Ein Wunder?!», schnarrte der Abbé ungehalten, als er davon hörte. Warum sollte der Herr ein Wunder ausgerechnet an diesen aufsässigen Weibern tun, und noch dazu an einer ehemaligen Hure? Wahrscheinlich hatte diese Begine sich das alles nur eingebildet. Wahrscheinlich hatte sie, verwirrt wie sie war und im Fieberrausch, sich etwas zusammengeträumt. «Nicht jede Heilung ist gleich ein Wunder. So unwahrscheinlich sie einem auch vorkommen mag!»
«Aber die Wunde war in nur einer Nacht so gut wie geheilt, obgleich der Arzt die Begine fast aufgegeben hatte», berichtete die Haushälterin des Priesters, die es auf dem Markt gehört hatte. «Und dann das Pulver, das der Engel hinterlassen hat.»
‹Pulver! Seltsam geformte Steine, Schlangenhäute, Disteln, Wurzeln in Menschengestalt, Formen, Zeichen! Immer wieder dieselbe alte Geschichte. Die Leichtgläubigen
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