Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
den nächsten Tagen erwarten? Eine große Familie? «
Das laute Gelächter schmerzte in Adelinds Ohren. Sie sehnte sich nach Schweigepflicht.
» Die Erste hat gezahlt, um hier zwei Nächte zu verbringen. Wir können nicht jedem Unterschlupf gewähren. Also, hast du Geld? « , fuhr der Mann fort.
Adelind dachte an den Beutel, der unter der Decke an ihrem Gürtel hing. Sie ahnte, dass sie ihn samt und sonders verlieren würde, sobald die Bettler von seiner Existenz erfuhren.
» Ich habe nichts. Ich flehe um Erbarmen. Da draußen in der Kälte überlebe ich diese Nacht nicht « , log sie verzweifelt.
» Wenn du kein Geld hast, musst du auf andere Weise zahlen « , kam es unerbittlich zurück. Das Grölen schwoll wieder an. Zu ihrem Entsetzen vernahm Adelind auch ein paar weibliche Stimmen, die in kreischendes Gelächter ausgebrochen waren. Vor ihren Augen zog ein Bettler seinen Kittel in die Höhe. Ein rotes Stück Fleisch tauchte zwischen seinen Beinen auf, das er rieb, um es wachsen zu lassen. Sie würgte.
» Jetzt benehmt euch nicht wie Tiere. Die erste Schwester zahlte genug für eine ganze Woche « , kam es plötzlich aus dem Hintergrund. Eine kleine Frau hatte sich neben den Bettlerkönig gestellt. Ein paar kümmerliche, verklebte Haarsträhnen wuchsen aus ihrem nackten Schädel. Die rechte Hälfte ihres Gesichts war von eitrigem Ausschlag entstellt, und sie vermochte nur eine Seite ihres Mundes zu bewegen. Adelind erinnerte sich dunkel, ihr einmal Almosen gegeben zu haben. Damals hatte sie diese Gestalt als erbarmungswürdig empfunden, doch nun ging eine Stärke von ihr aus, die ihr ein klein wenig Hoffnung gab.
Die Frau sah zum Bettlerkönig hoch, der sich mit den Fingern durch seinen schmutzig grauen Bart fuhr.
» Na gut « , meinte er nach einer Weile. » Heute Nacht könnt ihr beide bleiben. Morgen müsst ihr zusehen, dass ihr irgendwie Geld heranschafft, sonst zahlt ihr den anderen Preis oder bleibt draußen. «
Ein unzufriedenes Murren zog durch den Raum, doch der Mann vor Adelind hatte seinen Kittel bereits sinken lassen, und allmählich kehrte Ruhe ein. Der Bettlerkönig setzte sich zu seiner Gefährtin, die im Schein der Flammen Läuse aus seinem Haar zu nesteln begann. Adelind vermochte sich nun durch die Menge zu schieben, um endlich zu ihrer Schwester zu gelangen. Unterwegs kam sie kurz in die Nähe ihrer Retterin.
» Ich danke Euch, Ihr habt ein gütiges Herz « , flüsterte sie ihr zu. Die Frau stieß ein krächzendes Lachen aus.
» Den Teufel habe ich! Ein gütiges Herz können sich nur die feinen Nonnen dort in ihrem Kloster leisten. Hier bei uns, da muss jeder sehen, dass er selbst etwas zu fressen kriegt. Je schneller du das kapierst, desto besser für dich. «
Adelind nickte in Ermangelung einer passenden Antwort, dann gelangte sie endlich zu Hildegard, die sie mit weit aufgerissenen Augen anblickte.
» Warum bist du hier? Doch nicht wegen mir? «
» Aus welchem Grund denn sonst? « , antwortete Adelind und drückte Hildegards Finger, die sich kaum weniger eisig anfühlten als ihre eigenen. Sie wurden nicht sehr nahe an das Feuer herangelassen, doch sorgte die Nähe der anderen Menschen mit der Zeit dennoch für Wärme.
» Du bist meine Schwester, und ich lasse dich nicht im Stich « , versicherte Adelind und hob nur die Hand, als Hildegard zum Widerspruch ansetzte. » Es ist besser, wenn sie nicht mitbekommen, woher wir sind. Nach mir wird vielleicht schon gesucht. Ich bin mir sicher, dass viele hier uns für eine Scheibe Brot verraten würden. Lange können wir hier nicht bleiben, am besten, wir brechen morgen schon nach Köln auf. «
Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass die im Kloster erlernte geräuschlose Art der Kommunikation mit Hildegard ihr eines Tages an einem solchen Ort nützlich sein würde. Die Schwester schmiegte sich dankbar an ihren Körper.
» Wie du meinst « , bewegten sich ihre Lippen. In Adelinds Kopf tobten zahllose Gedanken. Köln, eine Herberge mit warmen Betten, und dann… In Köln konnten sie auf Dauer nicht bleiben. Aber es musste auf dieser Welt auch andere Orte geben, die sich dem Einflussbereich von Mutter Mechtildis entzogen. Sie würden reisen müssen. Weit reisen. Eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht erwachte in Adelind. So viele Jahre lang hatte sie geglaubt, bis zu ihrem letzten Atemzug auf dieser Welt im Kloster zu den heiligen Makkabäern zu bleiben. Nun taten sich neue Möglichkeiten auf, Gefahren und Hoffnungen, der Weg ins
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