Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
Unbekannte.
Sie musste Schritt für Schritt tun. Das Ziel war nur ein verschwommener Punkt am Ende des Himmels.
» Was ist mit dem Geld, das Mutter Mechtildis dir gab? « , fragte sie Hildegard. Die Schwester neigte den Kopf zur Seite.
» Es war nur ein kleiner Beutel. Fünf Silberpfennige, glaube ich. «
Adelind sog laut Luft ein.
» Unser Vater hat dem Kloster sicher um einiges mehr gegeben, damit es uns bis an unser Lebensende beherbergt. «
» Aber es ging ja nur um mich « , verteidigte Hildegard die Äbtissin. » Und sie zog die Jahre meiner Erziehung ab. «
Adelind ahnte, dass es trotzdem viel zu wenig gewesen war, sah aber keinen Sinn darin, sich deshalb aufzuregen.
» Du hast dem Bettler vor dem Klostertor etwas gegeben, damit er dich hierherschickte « , fasste sie ihr bisheriges Wissen zusammen. » Dann musstest du noch für zwei Nächte in dieser grauenhaften Hütte hier zahlen. Wie viel ist noch übrig? «
Hildegards Kinn senkte sich auf ihre Brust.
» Es tut mir so schrecklich leid, ich habe nichts mehr. Ich weiß, ich bin dumm und ungeschickt. Dem ersten Bettler gab ich freiwillig zwei Pfennige, denn er schien sie viel dringender zu brauchen. Hier in der Hütte, da zog ich den Beutel heraus, und er wurde mir gleich aus der Hand gerissen. Ich hatte solche Angst, dass sie mit mir machen… was… was sie mit dir machen wollten. Ich wagte nicht zu protestieren. «
Adelind unterdrückte einen Seufzer. Vermutlich hätte Hildegard ein entschlossener Protest auch nicht viel genützt. Sie lobte sich für ihre eigene Lüge, denn nun brauchten sie das Geld von Schwester Brigitta noch nötiger. Hätte sie den anderen Preis bezahlt, wenn er wirklich eingefordert worden wäre? Sie wusste es nicht. Doch schien Keuschheit auf einmal nicht nur eine Frage der eigenen Willenskraft, sondern ein Gut, das nicht alle Frauen sich erlauben konnten. War es eine Prüfung Gottes? Doch warum prüfte er manche Menschen strenger als andere?
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Körper schmerzte vor Kälte und Erschöpfung. Eng an Hildegard geschmiegt ließ sie sich langsam in den Schlaf fallen. Morgen ging es nach Köln. Und dann musste es irgendwie weitergehen.
4. Kapitel
S ie brachen auf, sobald der Morgen graute. Zu Adelinds Erleichterung war es etwas wärmer geworden, und der Schnee schmolz zu schlammigen Pfützen. Nach einer Weile erreichten sie die Straße nach Köln, fügten sich in eine Kolonne aus Karren und gemächlich trottendem Fußvolk. Als das Tor der Stadtmauer vor ihnen auftauchte, schien bereits eine warme, gnädige Sonne.
Adelind zog ihre Schwester entschlossen durch das Getümmel. Niemals zuvor hatte sie derart viele Menschen auf so begrenztem Raum gesehen. Zwischen den Häusern, die enge Gassen säumten und deren obere Stockwerke über die unteren ragten, sodass sie den Himmel fast vollständig aussperrten, fürchtete sie, regelrecht erdrückt zu werden. Manchmal stockte ihr der Atem, und sie musste sich an eine der hölzernen Wände lehnen, um wieder Ruhe zu finden. Hildegards verängstigter Blick zwang sie zur Selbstbeherrschung, denn sie durfte ihre Schwester nicht im Stich lassen.
» Wenn wir all den Leuten hinterherlaufen, kommen wir vielleicht an einen größeren Platz. Irgendwo wollen die doch alle hin « , flüsterte Hildegard ihr schließlich zu. Adelind warf einen Blick auf die an ihnen vorbeirempelnden Mengen, von denen die meisten tatsächlich in dieselbe Richtung strömten. Wieder reihten sie sich in eine Kolonne ein, die nun aus Bauern mit Karren, berittenen Herren in pelzverbrämten Mänteln und auch einer Sänfte bestand, aus der kurz das mit einem hauchdünnen Schleier verzierte Goldhaar einer vornehmen Dame herausragte. Adelind erkannte die Stiftskirche von Sankt Kunibert, die sie vor vielen Jahren einmal mit Mutter Mechtildis besucht hatte, um dort dem Propst vorzusingen. Damals hatte sie die Stadt nicht als so beengend empfunden, vielleicht, weil sie in einem geschlossenen Karren gereist waren. Es ging immer weiter eine enge Straße entlang, einmal wurde nach rechts abgebogen, und als Adelind bereits meinte, dass eine Stadt nur aus unübersichtlichen Häuserschluchten bestand, da tat sich plötzlich Licht auf.
Sie sahen zahllose Hütten und Verkaufsstände, die eine weite Fläche fast vollständig bedeckten. Das Gebrüll war ohrenbetäubend. Einer der berittenen Herren nutzte nun seine Reitgerte, um vorwärtszukommen. Ein paar Fußgänger sprangen mit wütendem Heulen
Weitere Kostenlose Bücher