Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
sah sie feine, blasse Lippen, die von einer spitzen Nase überschattet wurden. Sie war nicht hässlich, stellte sie erleichtert fest, doch neben einer schillernden Erscheinung wie Marcia wirkte sie farblos. Außerdem fehlte ihr etwas, das männliche Blicke auf sie ziehen würde. Sie konnte nicht benennen, was es genau war, erkannte nur diesen Mangel an sich selbst.
» Nimm etwas von der Pomade, sonst übersieht man dich « , bot Marcia sich wieder an. Ihre Stimme klang weder zornig noch herablassend. Es schien, als hätte sie Adelind für den Moment als Teil der Truppe angenommen. Adelind schmierte sich zögernd etwas Rot auf Lippen und Wangen, doch wurde sie dadurch nach eigenem Ermessen nicht hübscher. Die Farbe schien unmäßig grell in ihrem Gesicht, schrie dem Betrachter aufdringlich entgegen, während sie bei Marcia selbstverständlich wirkte.
» Und zieh endlich den Lappen vom Kopf! « , drängte Marcia nun ungeduldig. » Der macht doch aus jeder Frau eine Vogelscheuche! «
Adelind wollte gehorsam den Arm heben, erstarrte aber in der Bewegung.
» Es geht nicht « , flüsterte sie Marcia beschämt zu. » Im Kloster wurde uns regelmäßig das Haar geschoren. «
Marcia sog laut Luft ein.
» Also ich würde jedem, der mich so verunstalten will, die Schere aus der Hand beißen « , zischte sie. Adelind senkte den Kopf, plötzlich beschämt, dass sie all dies mit sich hatte geschehen lassen, ja, dass es ihr nicht einmal schlimm vorgekommen war. Aber was wusste Marcia schon von einem frommen Leben, sagte sie sich und zog trotzig die Schultern zurück.
» Sie hat wirklich eine wunderschöne Stimme « , mischte Hildegard sich nun ein. » Warum sollte es denn wichtig sein, ob jemand ihr Haar sieht? «
Antonius nickte zustimmend, wobei er weiterhin in Hildegards Richtung starrte. Wenn sie gesagt hätte, dass Wölfe liebenswerte Tiere seien und dass Igel durch den Himmel flögen, hätte der junge Mann wohl ebenfalls genickt. Konnte allein der Anblick einer schönen Frau Männer derart ihres Verstandes berauben, grübelte Adelind. Marcia, die wohl zu einem ähnlichen Urteil gelangt war, holte schnaubend Luft, doch da rief Peyres nach ihr, und sie eilte an seine Seite.
Er spielte auf einer Fiedel, während Marcia sang. Die Melodie war flott und floss gefällig ins Ohr. Marcia hatte eine recht tiefe, kräftige Stimme, die nicht immer den richtigen Ton traf, doch machte sie dies durch den reizvollen Schwung ihrer Hüften wett, wenn sie sich zur Musik bewegte. Die Worte des Liedes konnte Adelind nicht verstehen, ebenso wenig wie die neugierig gaffenden Zuschauer, aber die Darbietung gefiel. Ein paar Türen öffneten sich und entließen weitere Gestalten, die sich zum Publikum gesellten. Anschließend legte Peyres sein Instrument nieder, Marcia ergriff eine Rassel, und sie sangen gemeinsam. Diesmal war das Lied auf Deutsch. Es handelte von einem Händler, der nach langen Reisen zu seiner Gemahlin zurückkehrte, sie der Untreue verdächtigte und einen Freund überredete, als Verführer aufzutreten, damit er die Sünderin auf frischer Tat ertappen konnte. Doch im verabredeten Moment wartete die Frau allein auf ihn, warf ihm sein Misstrauen vor und beteuerte ihre Unschuld. Als Peyres reumütig seinen Arm um Marcia legte, die ihren Kopf an seiner Schulter vergrub, wischten ein paar Frauen sich die Augen trocken. Dann rammte Marcia ihm ihren Ellbogen in die Rippen, trat grinsend vor und fragte, welche Frau es verdient hätte, bis an ihr Lebensende an die Seite eines derart eifersüchtigen Griesgrams gefesselt zu sein, der unterwegs sicher kein Hurenhaus ausgelassen hatte. Zögernder Applaus erklang, der anschwoll, als sie ein paar schwungvolle Drehungen vollführte und den Zuschauern dabei einen Blick auf ihre nackten Beine gönnte. Ein paar Männer boten sich johlend als Tröster an. Trotz des Stirnrunzelns mehrerer Matronen warf Marcia ihnen eine Kusshand zu. Adelind sah sich besorgt nach Hildegard um, die von solch schamlosem Benehmen einer Frau noch entsetzter sein musste als sie selbst, aber ihre Schwester starrte nur gebannt auf die Darbietung der Spielleute. Ein verträumtes Lächeln lag auf ihren Lippen, und ihre Augen leuchteten. Sie sah aus wie ein Kind, das die Wunder der Welt bestaunte.
Eine Weile ging es so weiter, ein Lied folgte auf das andere, und die Zuschauer klatschten begeistert in die Hände. Im Hintergrund erblickte Adelind einen kleinen grauen Mann in dunkler Kutte, der hier wohl der Pfarrer sein
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