Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
die Anhöhe über der Stadt erreichte, ging
gerade die Sonne unter. Der Galgen stand einsam und verlassen da, nur der
Strick über dem Blutgerüst baumelte im Wind. Aus dem angrenzenden Wald, längst
in tiefes Dunkel gehüllt, brachen die Schatten der Nacht hervor, wie die
Geister der Gehenkten, die es an den Ort ihrer Hinrichtung trieb.
Paradoxerweise hatte der Reliquienhändler mittlerweile
seine Skrupel überwunden. Schließlich war er nicht zum ersten Mal hier droben,
sondern fast jeden zweiten Tag. Und das hatte natürlich seinen Grund, und zwar
einen, von dem nur er, seine Frau und niemand sonst etwas wusste.
Aber all das spielte im Moment keine Rolle. Viel
wichtiger war, dass sein Plan klappte, selbst auf die Gefahr hin, dass er die
Stadt Hals über Kopf verlassen und irgendwo anders Unterschlupf suchen musste.
Doch noch war es nicht so weit. Agilulf blieb
regungslos stehen und lauschte. Weit und breit niemand zu sehen. Keinerlei
verdächtige Geräusche. Nur das Rauschen des Windes, der durch die Äste der
jahrhundertealten Eichen rund um den Galgen und den Schindanger der Gehenkten
fuhr.
»Was zum Teu…« Der Schreck kam so plötzlich, dass
Agilulf nicht einmal zusammenfuhr, so unerwartet, dass ihm glatt die Spucke
wegblieb. Der Reliquienhändler erstarrte, vor lauter Angst, das Messer an
seiner Kehle würde ihm jeden Moment den Garaus machen.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Als Agilulf die
heisere, vor Schadenfreude nur so strotzende Stimme hinter seinem Rücken hörte,
verflog seine Furcht im Nu. Der Reliquienhändler atmete befreit auf. Fast im
gleichen Moment schoss ihm die Zornesröte ins Gesicht, und er wirbelte auf dem
Absatz herum.
Wigbert der Totengräber hielt sich den Bauch vor
Lachen. Erst recht, als er Agilulfs erzürnte Miene sah. Drauf und dran, dem
buckligen alten Zwerg mit der zerfledderten Filzkappe eine gehörige Tracht
Prügel zu verpassen, konnte sich der Reliquienhändler gerade noch beherrschen.
»Kannst du mir verraten, was das Ganze soll?!«, raunzte er den höchstens vier
Fuß großen Gnom an. »Für den Fall, dass du es noch nicht weißt: Auf derlei
Schabernack kann ich im Moment glatt verzichten!«
»Kann ich mir denken!«, antwortete der Zwerg in einem
Ton, aus dem ein gerüttelt Maß an Unbehagen sprach. »Würde mir an deiner Stelle
genauso gehen.«
»Ach, ja?!« Agilulfs Rechte, zur Faust geballt,
entspannte sich, wenngleich sein Atem nach wie vor rascher ging. »Sollte dies
ehrlich gemeint sein, schon jetzt vielen Dank für dein Mitgefühl!«
»Gern geschehen!«, entgegnete der Totengräber und
runzelte die Stirn. »Oder hast du es dir etwa anders überlegt?«
»Selbstverständlich nicht.« Der Reliquienhändler,
zumindest nach außen die Ruhe selbst, sah sich rasch nach allen Seiten um. »Was
ist – hast du die Ware besorgt?«
»Hab ich.«
»Genau so, wie ich es dir eingeschärft habe?«
Der Zwerg nickte, die Spur eines Lächelns im
missgestalteten Gesicht. »Habe ich dich jemals im Stich gelassen?!«,
lamentierte er.
»Nein, hast du nicht!«, erwiderte Agilulf gereizt und
trat nervös auf der Stelle. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich die Sache
trotzdem gerne hinter mich bringen!«
»Ganz wie du willst, Bruder!«, antwortete der Zwerg
mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Nenn mich gefälligst nicht …«
»… Bruder? Aber warum nicht? Einfach nur deshalb, weil
wir nicht den gleichen Vater haben?!«
»Das wäre ja wohl noch schöner.«
»Hat dir unsere verstorbene Frau Mutter nun das
Versprechen abgenommen, für mich zu sorgen: ja oder nein?«, keifte der Gnom und
wippte auf den Absätzen hin und her.
»Ja, verdammt noch mal!«, fuhr Agilulf den Totengräber
an. »Und darum wirst du zur Abwechslung einmal auf deinen großen Bruder hören
und tun, was man dir sagt!«
»Aber, aber: Wer wird denn gleich eingeschnappt
sein!«, lamentierte der Zwerg und schraubte sich bis zu Agilulfs Kinn empor.
»Wirst doch wohl noch einen kleinen Spaß vertragen – oder etwa nicht?!«
An jedem anderen Tag hätte Agilulf seinem vorlauten
Gegenüber gezeigt, wer von ihnen hier der Stärkere war. Da er dazu aber weiß
Gott nicht in der Lage war, machte er gute Miene zu bösem Spiel und schluckte
seinen Ärger hinunter.
Froh über diesen unerwarteten Triumph, grinste der
Zwerg übers ganze Gesicht, wirbelte herum und verschwand laut kichernd im
Gebüsch. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf, den Griff einer Holzkiste in
der Hand, die er laut fluchend und
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