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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Hoeg
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auch so lang ist wie ein Zeigestock, und bewegt sie mit ausladender Geste in Richtung Panoramafenster.
    »Alle tiefen Städte haben einen Platz als spirituelles Zentrum. Der Platz vor dem Petersdom. Die Piazza San Marco. Der Kirchplatz in Finø-Stadt. Der Markt vor dem Dom in Århus. Der Bereich um die Kathedrale von Chartres. Der Platz vor der Blauen Moschee in Istanbul. In Kopenhagen ist es der Kongens Nytorv, der Königliche Neumarkt.«
    Wir sitzen auf der Terrasse des Hotels d’Angleterre . Vor den Fenstern geht das Leben seinen gewohnten Gang. Die Touristen versuchen zu verstehen, wie Kopenhagen jetzt im April mit Sonnenschein und Frühling prahlen und gleichzeitig einen frostigen Nordwind in seinem Zylinder versteckt halten kann, so dass sie sich nicht entscheiden können, ob sie in Bikini oder Schneeanzug durch die Stadt flanieren sollen. Am Baumrund des Platzes steht ein zweistöckiger, briefkastenroter Touristenbus und wartet auf Fahrgäste, und vor dem Grafen auf dem Tisch stehen ein hohes Smörrebröd und ein hohes Bier mit hohem Schaum.
    »Die Seemannsmission im Nyhavn gegenüber«, fährt der Graf fort, »die christlichen Wurzeln des Königlichen Theaters, Der Elfenhügel , Bournonvilles Ballettaufführungen, das sind tiefe Stücke, evangelische. Man verspürt in ihnen die Vibrationen von Holmens Kirke«.
    Mit dem Messer trennt der Graf einige Schichten auf seinem Brot mit Salzfleisch, Leberpastete und Jus. Aus einem kleinen Metalldöschen nimmt er eine Messerspitze eines curryähnlichen Pulvers. Er blinzelt Tilte und mir zu.
    » Spitzkegeliger Kahlkopf . Vorgestern auf den Grünflächen der nördlichen Vorstädte gepflückt. Getrocknet und heute von den Kobolden hergebracht. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, beim Kongens Nytorv. Merkt ihr das, wie nah Schlosskirche und Marmorkirche sind? Und das Institut für buddhistische Studien. Die Ansgarkirche und das Katholische Institut. Das ergibt ein phantastisches Feld.«
    Dann fällt ihm plötzlich auf, dass wir seine Begeisterung nicht teilen. Keiner von uns fünf, weder Aschanti noch Hans, Tilte, Basker oder ich.
    Tilte stellt ihm Leonoras Laptop vor die Nase.
    »Rickardt«, sagt sie. »Wir möchten dir gern was zeigen.«
     
    Wir sind vor fünf Minuten gekommen, Aschanti erreicht Rickardts Tisch als erste, er bemerkt sie auch als erste, das veranlasst ihn, die Zigarre hinzulegen.
    »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagt er. »Bezaubernd.«
    Er sieht uns andere an, grüßt, und wendet sich wieder Aschanti zu.
    »Sind Sie Ausländerin? Ich könnte Ihnen die Stadt zeigen. Mein Bentley wartet auf mich. Ein Kabrio.«
    »Mit Vergnügen«, antwortet Aschanti. »Ist auch noch Platz für meinen Freund?«
    Graf Rickardt sieht Hans an, dann wieder Aschanti. Er leckt sich die Lippen, und Tilte und ich können sehen, dass Möglichkeiten durch seinen Kopf gehen, die ich nichtweiter ausbreiten möchte, weil das, was ich hier erzähle, eigentlich für die ganze Familie gedacht ist, »All-Age« sozusagen.
    Dann reißt er sich zusammen und zeigt den Hauch eines Spirits , der sich auf sechshundert Jahre Adelsgeschichte berufen kann.
    »Ich habe eine bessere Idee«, sagt er. »Du und Hans, ihr leiht euch die Karre aus. Nach Norden am Strand langzufahren, zwei Jungverliebte im offenen Bentley, das ist ein religiöses Erlebnis.«
    In diesem Augenblick werden ihm das hohe Smörrebröd und das Bier vom Fass serviert, worauf Rickardt den Königlichen Neumarkt besingt und Tilte ihm den Laptop näher hinschiebt.
    Nach einem kurzen Moment hat Rickardt den Raum identifiziert.
    »Das ist die alte Schlosskirche«, sagt er. »Da singe ich ja bald.«
    Tilte lässt die Aufnahme schneller laufen. Es wird Nacht. Die vier Gestalten betreten den Raum.
    »Das sind ja Menschen«, sagt der Graf. »Was machen denn die da mitten in der Nacht?«
    »Hör dir mal die Stimmen an«, sagt Tilte.
    Sie dreht den Ton lauter.
    »Hier sind Mäuse«, sagt die atemlose Frauenstimme.
    Rickardt schüttelt den Kopf. Er ist ratlos.
    Tilte lässt die Sequenz noch einmal laufen. Jetzt, wo ich sie mehrmals gesehen habe, weiß ich im Voraus, wann ungefähr die vier Gestalten den Raum betreten.
    »Ausgeschlossen. Was du da gefühlt hast, waren Ratten.«
    Rickardt horcht auf. Das Video geht weiter.
    »Tut mir leid. Es ist so bewegend. Hier habe ich als Kind gespielt …«
    Rickardt macht ein Zeichen, Tilte hält das Bild an. Rickardt dreht den Rechner so, dass der Bildschirm im Schatten liegt.
    »Pfui Teufel,

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