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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Hoeg
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Wiinglad«, sagt Tilte, »ist ein Name, den wir uns merken müssen.«
    Wir sind auf dem Weg hinaus und bleiben noch ein wenig im Entree stehen, um uns vom Haus zu verabschieden. Mein Blick fällt auf das Schlüsselbrett.
    Ich zeige auf den Briefkastenschlüssel, er hat einen roten Emaille-Anhänger. Tilte versteht mich nicht.
    »Er glänzt«, sage ich. »Es ist ein ganz neuer Schlüssel, frisch vom Schlüsseldienst.«
    Jetzt sieht Tilte es auch. Einen Briefkastenschlüssel braucht man jeden Tag, unserer war abgenutzt und gelblich. Der hier ist neu.
    Wir schließen den Briefkasten auf, der Schlüssel passt, darin liegt bloß die Ablesekarte vom Wasserwerk, wir nehmen sie mit hinein und setzen uns noch einmal an den Tisch, von dem wir eben aufgestanden sind und an dem wir unserer Kindheit Gnadenbrot und Gnadenrillettes verzehrt haben.
    »Die Polizei«, sage ich. »Sie haben den Schlüssel nachgemacht und dann den verkehrten in den Schlüsselring gesetzt. Die haben bestimmt noch mehr nachgemacht.«
    »Aber wozu?«
    »Lars und Katinka! Garantiert leeren sie jeden Tag den Kasten. Und lesen die Briefe. Um zu sehen, ob etwas Wichtiges über unsere Eltern dabei ist.«
    »Warum holen sie sie nicht einfach in der Post ab? Sie hätten das Recht dazu.«
    »Dazu brauchen sie eine richterliche Genehmigung«, sage ich. »Die haben sie vielleicht nicht. Und außerdem würden Gerüchte entstehen. Du kennst doch Pylle.«
    Pylle Postmeister ist eine regelrechte Sprinkleranlage. Die Nachrichten erreichen sie in gleichmäßigem Strom, und sie versprüht sie über die durstigen Felder.
    Tilte nickt.
    »Das erklärt auch, warum nur ein Brief im Kasten ist. Nach einer Woche müssten mindestens dreißig da sein.«
    Ich hebe den Brief auf, der unter der Tür hindurchgeschoben worden ist. Er ist von der Finø Bank und hat keine Briefmarke. Ich reiße ihn auf. Der Umschlag ist von der Bank, aber nicht das Papier, das darin steckt. Es ist nämlich eine Karte mit einem gottähnlichen Wesen mit Elefantenrüssel, das auf einem Thron aus Rosenblättern sitzt, und der Text ist handgeschrieben. Man bedanke sich herzlich für den gemütlichen Abend, das Zitronensoufflé werde auf ewig im Gedächtnis des Unterzeichneten bleiben, und im Übrigen wolle man kurz erwähnen, dass sie in der Bank über hundert auf der Warteliste stehen hätten, d. h. sie müssten schnell eine Antwort haben, und die liebsten Grüße von Gitte G.
    Wir wüssten gern, worauf Gitte eine Antwort braucht, aber dem können wir jetzt nicht nachgehen, es ist Wochenende, die Bank hat zu, und wenn sie am Montag aufmacht, sind wir entweder über alle Berge oder wieder in Ketten und hinter Schloss und Riegel der Sozialverwaltung.
    Dann zeigt Tilte auf die Mailadresse. Die Handschrift könnte man wohlwollend als eigenwillig bezeichnen, wenn man aber etwas direkter sein möchte, könnte man auch interessant, aber unleserlich sagen.
    »Sieht aus wie die dänische Ausgabe chinesischer Schriftzeichen«, sagt sie. »Das muss Leonora gewesen sein.«

 
    Ich möchte mich jetzt gern behutsam einigen Ereignissen nähern, die vor zwei Jahren zum ersten Verschwinden meiner Eltern führten. Aber zuerst möchte ich dich kurz darüber informieren, wie meine Mutter und mein Vater aussehen, damit du sie erkennst und dich in einen Hauseingang flüchten oder sonst wie verdünnisieren kannst, falls sie dir einmal über den Weg laufen sollten.
    Sie sind beide in fortgeschrittenem Alter, mein Vater ist vierzig, meine Mutter wird es in ein, zwei Jahren. Sie hat helles Haar, und im Sommer ist sie so braun, dass die Urlaubsvertretung im Krankenhaus Finø sie fragt, ob sie Dänisch spricht, wenn sie mit Hans oder Tilte oder mir auf die Unfallstation kommt; es gab Sommer, in denen wir insgesamt mehr als zwölfmal in die Notaufnahme mussten.
    Obwohl meine Mutter altersmäßig mit einem Bein im Grabe steht, wie Tilte sich auszudrücken pflegt, ähnelt sie oft einem jungen Mädchen, und da wir ja hier ganz ehrlich sein wollen, muss einfach gesagt werden, dass sogar einige meiner Freunde, von denen man hätte annehmen können, dass sie ihre fünf Sinne noch beisammenhaben, ganz offenkundig ein bisschen in meine Mutter verknallt sind.
    Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, als wenn einem das nicht schon das Gefühl gäbe, von einem dieser Flüche getroffen zu sein, wie sie auf die armen Würstchen im Alten Testament herabhageln, so verhält essich mit meinem Vater genauso oder gar noch ärger, nur

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