Die Kinder des Dschinn. Das Akhenaten-Abenteuer
wir, den Krug in meinem Rucksack rauszuschmuggeln.«
In Ermangelung eines besseren Plans nickte Philippa zustimmend. Sie stellten sich Hand in Hand vor die Vitrine und konzentrierten sich auf die Vase, in die sie schlüpfen wollten.
»Das ist die so genannte Portland-Vase«, erklärte Philippa. »Sie ist von Anfang des ersten Jahrtausends und wurde im Jahr 1845 von einem jungen Iren in mehr als zweihundert Stücke zerschlagen. Heute ist sie vor allem durch ein berühmtes Gedicht von John Keats bekannt, das ›Ode an eine griechische Urne‹ heißt. Es steht in meinem Gedichtband.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung ihres Rucksacks. »Das Buch, das Mister Groanin mir gegeben hat.«
»Bist du endlich fertig?«, fragte John ungeduldig. Draußen vor dem Raum hörte er das Gebell von Polizeihunden.
»Ja«, sagte Philippa. »Ich habe nur versucht, mich auf die Vase zu konzentrieren.«
»Zählen wir bis drei?«
»Gut.«
»Also auf drei.«
»Nein, warte. Wir dürfen nicht vergessen, gegen den Uhrzeigersinn hineinzuschlüpfen «, sagte Philippa.
John sah sie verständnislos an.
»Hast du das schon vergessen? Die nördliche Halbkugel. Raum und Zeit. Damit die Zeit in der Vase schneller vergeht.«
John nickte. »Auf drei geht’s los.«
Philippa nickte bestätigend. »Auf drei.«
»Eins – zwei – drei –«
»FABELHAFTIGANTISCH-«
»ABECEDERISCH!«
»WUNDERLICHERICH!«
In der Portland-Vase
ür John sah es so aus, als hätten sie in der Portland-Vase eine lange Nacht vor sich. Seine Schwester machte es ihm nicht leichter.
Sobald sie es sich auf ihrem selbst entworfenen rosa Sessel bequem gemacht hatte, zog sie das »New Oxford Book of English Verse« aus ihrem Einbrecher-Rucksack und fing an zu lesen.
»Wie kannst du jetzt bloß lesen?«, fragte John, der im Inneren der Vase rastlos hin und her lief. »Nach allem, was mit Onkel Nimrod passiert ist.«
»Ich versuche eben, nicht daran zu denken«, sagte Philippa. »Sonst müsste ich heulen. Was ist dir lieber?«
»Du hast Recht«, gab John zu. »Lies weiter. Ich könnte auch etwas Ablenkung gebrauchen.«
Philippa las ihm den ersten Vers von Keats’ Gedicht vor, das von der Portland-Vase inspiriert worden war:
Ode auf eine griechische Urne
Du gänzlich unberührte Braut der Ruh,
Langsamer Zeit und Stille Pflegekind,
Des Walds Chronistin, wie viel süßer du
Geschichten ausschmückst, als ein Vers ersinnt:
Welch Sage wird dich laubumsäumt umziehn,
Die Götter, Menschen oder beide zeigt,
In Tempe oder in Arkadiens Tal?
Welch Wesen sind’s? Welch Mädchen, abgeneigt?
Welch irre Jagd? Welch Kampf, um zu entfliehn?
Welch Pfeifen, Trommeln? Welches Bacchanal?
»Ich hätte nicht gedacht, dass man über eine doofe alte Vase ein Gedicht schreiben kann«, bemerkte John. »Vielleicht hätte Keats eine ganz andere Meinung von der griechischen Urne bekommen, wenn er darin eine Nacht verbracht hätte.«
»Ich glaube nicht, dass wir die ganze Nacht hier drin sein müssen«, sagte Philippa. »Zumindest relativ gesehen.« Wieder sah John sie verständnislos an. »Wir sind doch gegen den Uhrzeigersinn hineingeschlüpft, nicht wahr?« Er nickte. »In diesem Fall können wir davon ausgehen, dass die Zeit draußen schneller vergehen wird als die Zeit in der Vase.«
»Du hast Recht«, sagte John. »Wir brauchen vielleicht bloß zehn bis fünfzehn Minuten hier drin zu bleiben, dann müsste es morgen früh sein.« Er sah auf seine Uhr. »Gleich können wir wieder raus.«
»Hoffentlich treffen wir Mr Groanin«, sagte Philippa. »Er wird sich Sorgen machen, wenn er nicht mehr in den Mumiensaal gehen kann, um die Cola-Flasche zu holen.«
»Er wird sich noch größere Sorgen machen, wenn er die Flasche mit nach Hause nimmt und dort feststellt, dass wir gar nicht drin sind.«
Sie drückten das Ohr gegen das Glas der Portland-Vase und lauschten aufmerksam nach Geräuschen im Raum hinter der Glaswand, um festzustellen, ob sich dort jemand aufhielt.
»Klingt alles still«, sagte John.
»Psst, warte noch«, sagte Philippa. »In einem Museum verhalten sich die Besucher immer leise. Wenn sie Lärm machten, würde man sie wahrscheinlich hinausschicken.«
Noch eine Minute verging. Sie hörten immer noch nichts.
»Ich glaube, wir sollten es riskieren«, meinte John und nahm die Hand seiner Schwester. »Bist du so weit?«
»Ja.«
Die Portland-Vase hat eine Höhe von nur fünfundzwanzig Zentimetern. Der tiefblaue Glasbauch der Vase ist mit mehreren
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