Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
fast vor Scham. Für eine Erklärung war Dybbuks Ausführung nicht besonders glaubwürdig. Andererseits gab es ohnehin kaum etwas, das Groanins Verschwinden aus dem Korb hätte erklären können.
Jagannatha sah an dem Seil hinauf bis zu dem Flaschenzug, mit dessen Hilfe sie gleichmäßig die Felswand hinaufgezogen wurden. »Ganz schöne Strecke für einen Mann mit nur einem Arm, Deepak«, meinte er skeptisch.
»Na klar«, antwortete Dybbuk. »Genau deshalb macht er’s ja. Um sich selbst und vor allen Dingen uns zu beweisen, dass er’s immer noch kann. Den Seiltrick, meine ich. Er hatte nämlich einen Unfall.« Dybbuk kam mit seiner Phantasiegeschichte langsam in Schwung. »Früher hat er sich, wenn er oben ankam, mit einer Axt immer in Stücke gehauen und die einzelnen Körperteile in einen Korb fallen lassen, der am unterenEnde des Seils stand. Das ist die traditionelle Art, den indischen Seiltrick auszuführen. Und dann musste eines von uns Kindern ein Tuch über den Korb werfen und kurz darauf tauchte er gesund und munter wieder auf. Aber als er den Trick das letzte Mal vorgeführt hat, ist ein Hund mit seinem Arm davongerannt; also muss er sich jetzt darauf beschränken, am Seil hochzuklettern und zu verschwinden.«
John sah den Ausdruck auf Jagannathas Gesicht, dem vor Staunen der Mund offen stand, und konnte sich nur mit größter Mühe das Lachen verkneifen.
»Natürlich habe ich vom indischen Seiltrick gehört«, sagte Jagannatha. »Ich glaube, ich habe ihn als Kind in Las Vegas mal in einer Vorstellung gesehen. Und ich habe mich selbst schon als Bauchredner versucht; Ventriloquismus, du weißt schon. Nur habe ich das noch nie gemacht, ohne es vorher anzukündigen.« Er spähte wieder über den Rand des Korbes, als rechnete er immer noch damit, Groanins Körper in dreißig Metern Tiefe liegen zu sehen.
»Du kannst ihn ja danach fragen, wenn wir oben sind«, sagte Dybbuk. »Es sei denn, du glaubst immer noch, dass er gesprungen ist oder dass wir ihn gestoßen haben.«
»Nein, nein, natürlich nicht«, beeilte sich Jagannatha zu beteuern, für den Fall, dass sie Groanin tatsächlich aus dem Korb gestoßen hatten und nun auch ihren Zeugen loswerden wollten. »Nichts läge mir ferner, Deepak. Ehrlich.«
»Wenn ich recht drüber nachdenke«, kam John Dybbuk zu Hilfe, »ist es genau so, wie Sherlock Holmes gesagt hat. Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, auch wenn es einem noch so unwahrscheinlich vorkommt,die Wahrheit sein. Du hast ihn doch in den Korb steigen sehen, nicht?«
»Ja«, bestätigte Jagannatha.
John nickte zum Erdboden hinunter. »Hier drin ist er nicht. Und da unten ist er auch nicht. Also muss er wohl oben sein. Stimmt’s?«
»Ich denke schon.«
Endlich erreichte der Aufzug die Kuppe des Felsens, auf der ein anderer
Sannyasin
den Korb an einer wacklig wirkenden Plattform festmachte und die kleine Tür öffnete, damit die vier Passagiere den Turm betreten konnten.
Dies war für Groanin das Zeichen, hinter einigen leeren Behältern für Flüssigstickstoff hervorzukommen, die ihm als Versteck gedient hatten, nachdem ihm klargeworden war, dass sein Wunsch, »schon oben« zu sein, sich erfüllt hatte. Zum Glück hatte der alte Mönch an der Aufzugsstation, deren Seilwinde von einem ebenso alten Esel angetrieben wurde, nicht auf die Plattform geachtet, als Groanin plötzlich im Turm aufgetaucht war, sodass er nicht mitbekam, dass von den fünf Neuankömmlingen im Turm nur vier auf normalem Wege dorthin gelangt waren. Ganz anders Jagannatha, der Groanin ehrfürchtig ansah.
»Das war unglaublich, Mr Gupta«, sagte er. »Wie Sie an dem Seil hinaufgeklettert sind. Einfach unglaublich.«
Groanin lächelte unsicher, weil er nicht wusste, welche Geschichte man aufgetischt hatte, um sein Verschwinden zu erklären. »Ja«, sagte er. »Nicht wahr?«
»Ist schon gut,
Dad «
, mischte sich Dybbuk ein. »Ich habe ihm alles über den berühmten indischen Seiltrick erzählt.«
»Ach, wirklich?«
»Sie müssen ihn mir irgendwann noch einmal zeigen, Mr Gupta«, fuhr Jagannatha fort. »Aber achten Sie darauf, dass ich auch wirklich hinsehe. Ich will nichts verpassen.«
»Nein, sicher nicht«, sagte Groanin, verblüfft darüber, dass sich der junge amerikanische Mönch mit einer so unglaubwürdigen Erklärung zufriedengab, während er Dybbuk für seine absurde Geschichte mit finsteren Blicken bedachte. »Es ist wirklich … äh, sehr sehenswert, wenn ich das
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