Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
überrascht, als er feststellte, dass ein großer Teil seiner Mahlzeit aus seinem Magen wieder hochkam, um ein zweites Mal gekaut zu werden. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er ein Wiederkäuer war und sein Körper nicht über die Enzyme verfügte, um die in Pflanzenteilen enthaltene Zellulose zu verdauen, sodass er den soeben aufgestoßenen Nahrungsbrei noch einmal zerkauen musste.
Als Mensch hätte ihn das vielleicht angewidert, aber nicht als Bigfoot. Seine Nahrung wiederzukäuen, fühlte sich für Zagreus ebenso normal an wie für eine Kuh, die daran gewöhnt war. Zumindest gab es ihm etwas zu tun. Und er war eine ganze Weile damit beschäftigt, die Kiefernnadeln gut genug zu zerkauen, um sie ein zweites Mal hinunterzuschlucken. Kauen war harte Arbeit.
Stille senkte sich über den dicken, leuchtenden Schnee im Yellowstone-Park – so leuchtend, dass Zagreus im grellen Lichtdie Augen schließen musste und eine Zeit lang vor sich hin döste, ohne zu ahnen, dass Groanins Geist schon eine geraume Weile neben ihm saß.
»Wach auf, du dämliches Riesenvieh«, sagte Groanin und boxte Zagreus gegen die mächtige behaarte Schulter; doch der Bigfoot reagierte nicht auf die Faust des Butlers.
Groanin hatte mit angehört, wie John Zagreus erklärte, dass sich der Butler an einem Ort zwischen Leben und Tod befand; er wusste, dass sein Körper um jeden Preis kühl gehalten werden musste und nicht von wilden Tieren gefressen werden durfte, wenn er jemals wiederbelebt werden wollte. Allerdings hegte er inzwischen die größten Zweifel, ob der müde Bigfoot seiner Aufgabe als Beschützer, der er sich nun stellen musste, wirklich gewachsen sein würde.
»Du sollst meinen Körper bewachen«, sagte er. »Meine Leiche sollst du bewachen. Und nicht vor dich hin schnarchen wie eine verdammte Holzfällersäge.« Verärgert schüttelte Groanin den Kopf. »Teufel auch! Die Bigfootfrau – wenn es so was gibt –, die mit diesem Krach klarkommen muss, tut mir wirklich leid«, murmelte er. »Ich habe schon einige Leute schnarchen hören. Mein alter Herr hätte in der englischen Nationalmannschaft antreten können. Aber der hier, der ist der Superschwergewichtschampion im Weltklasseschnarchen. Von wegen Bigfoot. Deine Füße sind nichts im Vergleich zu deiner Nase. Oder deiner Lunge. Du dämliches Riesenvieh.«
In weiter Ferne stieß ein Wolf ein zittriges Heulen aus, voller Melancholie und Hunger.
»Hast du das gehört?« Groanin fühlte einen Angstschauder wie einen kalten Windstoß durch sich hindurchfahren, und noch einen, als ihm urplötzlich klar wurde, dass er selbst kaum mehrwar als ein kalter Windhauch. Zum ersten Mal bekam er eine Ahnung davon, wie es sein musste, ein Dschinn zu sein, wenn auch im transsubstantierten Zustand oder während einer außerkörperlichen Erfahrung. »Das war ein Wolf, oder?«
Aber Zagreus schlief unüberhörbar weiter.
Ein anderer Wolf erwiderte das Heulen des ersten, als wären sie dabei, eine Suchaktion abzusprechen.
»Wach auf, du überdimensionaler Schimpanse!«, sagte Groanin. »Bevor die Wölfe anfangen, an meinem Leib rumzukauen. Mach schon, du wuscheliger Halbaffe! A-u-f-w-a-c-h-e-n!«
Zagreus klappte ein großes braunes Auge auf. Er hatte nicht Groanins Stimme, sondern den Wolf gehört. Sein Gehör war so scharf wie das eines Raubtiers.
Er stand auf – inzwischen war er fast drei Meter groß – und ging eine Weile im Kreis. Was Groanin nicht wusste, war, dass der Bigfoot seinen kräftigen Geruch als eine Art unsichtbare Palisade im Schnee hinterließ, in der Hoffnung, dass die Wölfe ihn wittern und sich entsprechend in Acht nehmen würden. Er täuschte sich nicht in dieser Hinsicht; Wölfe hatten tatsächlich Angst vor einem Bigfoot, fast so sehr wie vor einem Mann mit einem Gewehr.
»He, solltest du nicht besser Feuer machen?«, schlug Groanin vor. »Um die Wölfe abzuhalten.« Doch dann schüttelte er den Kopf. »Wenn ich es mir recht überlege, vergiss den Vorschlag lieber. Ein Feuer könnte den Schneehügel schmelzen, der meinen Körper kühlen soll. Ich bin nichts als eine Tüte gefrorene Erbsen, jawohl.«
Als er damit fertig war, sein Gebiet zu markieren, setzte sich Zagreus wieder hin. Dieses Mal hockte er sich mitten auf den Grabhügel.
»He, du hast gerade dein gigantisches Hinterteil auf meinem Kopf geparkt«, meckerte Groanin.
Zagreus blieb, wo er war, selbst als der erste Wolf vor dem Grabhügel auftauchte und sich wie ein zufriedener Hund in sicherer Entfernung
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