Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
Sommertag und er ein Mann frei von allen Sorgen.
»Sie können nicht hier bleiben«, sagte Philippa.
»Ich werde nicht lange hier sein«, sagte Marco. »Ich bin schließlich Venezianer. Das Meer wird kommen und mich holen.«
Philippa schaute sich um und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Und dann sah sie es. Draußen auf dem Meer. Eine große Welle, vielleicht zwei Meter hoch, rollte unablässig auf den Strand zu, stürmte vorwärts wie eine Herde ertrinkender Pferde, als habe sie eine titanische Aufgabe.
»Eine große Welle kommt auf uns zu«, informierte sie Marco Polo. »Sie werden ziemlich nass werden, wenn Sie nicht weggehen.«
»Bene«
, sagte er seufzend und schloss die Augen.
Instinktiv brachte sich Philippa auf dem Felsen über der Eremitenhöhle in Sicherheit und wartete. Sekundenlang ging ihr durch den Kopf, Marco mithilfe der goldenen Tafel dazu zu bringen, den Strand zu verlassen und sie nach China zu begleiten. Aber irgendwie erschien ihr das nicht richtig nach allem, was er für sie getan hatte. Außerdem war es offensichtlich, dass ihm das, was gleich geschehen würde, recht war.
Sekunden später schlug die große Welle unter gewaltigem Tosen an den Strand und überspülte Marco und alle Felsen um ihn herum. Als das aufgewühlte, schwere Wasser wieder ablief, war der alte Entdecker spurlos verschwunden. Philippa stand lange da und sah aufs Meer hinaus, suchte in den Wogen und am dunstigen Horizont nach einem letzten Zeichen von ihm. Doch da war nichts und es schien, als sei er nie da gewesen; als habe ihn sich die See zurückgeholt.
Philippa stand da, das Gesicht nass von Gischt und salzigen Tränen, wobei sie den Geschmack des einen nicht vom anderenunterscheiden konnte. Dann fuhr sie sich über das Gesicht und machte sich, die goldene Tafel sicher in ihrer Tasche verstaut, auf den Rückweg quer über die Insel zum Kloster.
Wenn die goldene Tafel wirklich so funktionierte, wie Marco es gesagt hatte, überlegte sie, könnte sie in weniger als vierundzwanzig Stunden in China sein.
Das magische Quadrat
Das magische Quadrat von Jonathan Tarot (mit der kinderleichten Anleitung zum Tanzen wie ein Derwisch) verkaufte sich in Läden auf der ganzen Welt mehr als einhundert Millionen Mal. Es war das meistverkaufte »Spielzeug« aller Zeiten. Leute, die kein Geschäft in der Nähe hatten, konnten sich von Jonathan Tarots Website eine Vorlage herunterladen, nach der sie ein Quadrat auf den Boden zeichnen konnten. Jeder, der die heruntergeladene Vorlage oder die Plastikfolie vermaß (die mit Klebestreifen versehen war, damit sie am Boden haften blieb), hätte festgestellt, dass das Quadrat genau einhundertundelf mal einhundertundelf Zentimeter maß. Nur wenigen Menschen war die wahre kosmische Bedeutung dieser Maße bewusst. Überall bereiteten sich Kinder – und nicht wenige Erwachsene – sorgfältig darauf vor, Jonathan Tarot mithilfe der kollektiven Macht ihres Geistes zu »assistieren«, wenn er vor laufender Kamera vom Dach eines New Yorker Gebäudes verschwand.
Wie man es von jemandem wie Iblis, der augenblicklich den Körper von Adam Apollonius in Besitz hatte, nicht anders erwarten konnte, war der eigentliche Zweck dieser Übung wesentlich finsterer. Finsterer und ein bisschen kompliziert.
Beobachter der Dschinn wissen sehr wohl, dass im Universumeine Balance zwischen Glück und Unglück herrscht, die man
Homöostasis
nennt. Manchmal überwiegt das Glück in der Welt, ein andermal das Unglück, doch meistens ist die Homöostasis intakt. Nun haben die Dschinn die natürliche Fähigkeit, Glück und Unglück zu beeinflussen. Sie können Gutes wie Schlechtes bewirken, je nachdem, wie sie ihre angeborene Fähigkeit zum Erfüllen von Wünschen wahrnehmen. Allerdings gibt es nicht genug von ihnen, oder besser gesagt, zu wenige, um die Homöostasis maßgeblich in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen.
Anders verhält es sich mit den Menschen. Diese sind, weil es so viele von ihnen gibt, viel eher in der Lage als Dschinn, die Homöostasis zu verändern. Aus diesem Grund ist der menschliche Wille – vor allem der Wille von Kindern, deren Lebenskraft besonders vital ist – die stärkste Kraft im Universum. In der Praxis bewirkt diese Kraft natürlich nicht allzu viel, weil die Menschen ihren Geist normalerweise nicht als kollektiven Willen einsetzen, sondern in viele verschiedene Richtungen und abhängig von ihren Einzelinteressen. Zumindest war das bisher der Fall, ehe Iblis den
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