Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
und es sieht andererseits lächerlich aus.
Übrigens wäre ich fast ausgeflippt, als ich nach meinem Tobsuchtsanfall sah, wie ein nasser Schwamm und ein Eimer Seifenwasser – ganz allein – meine Trittspuren von den Wänden wischten. Es dauert wohl eine Weile, bis man sich an unsichtbare Diener gewöhnt.
Ich beschloss, erst mal so viel wie möglich über Ayesha und ihren Hängenden Palast herauszufinden (ich muss noch feststellen, wie und wo er »hängt«). Bessere Kenntnisse darüber könnten mir vielleicht helfen, sie auszutricksen. Mit diesem Gedanken im Kopf ging ich zu der großen Bibliothek im Erdgeschoss des Palastes. Hier fand ich zu meiner Freude eine große Anzahl Bücher in englischer Sprache – ganze Regale voll –, außerdem die neuesten amerikanischen Zeitschriften und sämtliche englischen Zeitungen. Die Bücher befassten sich mit allen möglichen Themen, einige davon auch mit dem historischen Osborne-Haus. Es gab auch ein paar Bücher überden ursprünglichen Hängenden Palast, und die wollte ich besonders gründlich lesen. Während ich noch mit meiner Auswahl beschäftigt war, ging die Tür auf und Ayesha kam in die Bibliothek. Sie grüßte mich herzlich – jedenfalls so herzlich, wie es ihr möglich ist, und das heißt nicht viel.
»Es freut mich, dass du hierher gefunden hast«, sagte sie höflich. »Bestimmt wirst du manches finden, was dich interessiert und dir hilft, die Zeit herumzubringen.«
Ich hielt es für besser, die Bücher über den Palast, die ich lesen wollte, vor Ayeshas neugierigem Blick zu verbergen, und lächelte sie an, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Sie durfte auf keinen Fall Verdacht schöpfen, ich könnte Informationen sammeln, um meine Flucht zu planen. »Ja«, sagte ich. »Ich bin oft in der Schulbibliothek.« Ich ging mit einem Bücher- und Zeitschriftenstapel unter dem Arm hinaus und ließ Ayesha bei ihrer Zeitungslektüre zurück.
In meinem Zimmer blätterte ich erst die Zeitschriften durch, dann befasste ich mich gründlicher mit den Büchern, die ich ausgesucht hatte. Besonders eines schien mir sehr brauchbar: ein Führer von Iravotum und dem Hängenden Palast, geschrieben von einem gewissen Eno, dem ehemaligen Priester der Ischtar – damals Bellili genannt (glaube ich). Dieser Eno beschreibt eine Menge nützlicher Einzelheiten. Zum Beispiel soll es hier eine so genannte
Bocca Veritas
geben, was
Mund der Wahrheit
bedeutet. Laut Eno ist das nicht weniger als ein Orakel, das sämtliche Fragen, die man ihm stellt, mit absoluter Wahrheit beantwortet. Das Problem ist nur, dass er nicht genau sagt, wo sich dieses Orakel befindet, ich werde also danach suchen müssen. Sollte aber tatsächlich so etwas existieren,müsste ich mit den richtigen Fragen auch die Antworten bekommen, mit deren Hilfe ich hier rauskomme.
ZWEITER TAG, MITTERNACHT: Ich habe fast den ganzen Tag im Palast nach der B. V. gesucht und gleichzeitig versucht, Miss Glovejob aus dem Weg zu gehen. Sie läuft mir nämlich überallhin nach und will sich ständig mit mir unterhalten – ich glaube, sie ist einsam. Aber ich darf ihr nicht trauen. Nicht, wenn mir die Flucht gelingen soll.
Früh am Morgen bin ich in den Garten gegangen, der übrigens vollkommen anders ist als der, in dem einst Königin Viktoria spazieren gegangen sein muss. Eher könnte ich mir vorstellen, dass dieser Garten hier einmal den ursprünglichen Palast umgeben hat, denn er ist, zumindest auf der einen Seite, auf zig verschiedenen Ebenen angelegt, die sich über eine hohe Klippe hinunter in die Tiefe ziehen. Ein Garten »hängt« sozusagen über dem anderen: So könnten die antiken Hängenden Gärten von Babylon ausgesehen haben.
Auf der anderen Seite des Gebäudes erstreckt sich ein englischer Rasen mit einem Tor, und jenseits des Tores liegt das Reich Iravotum, das größtenteils aus undurchdringlichem Wald zu bestehen scheint. Das Tor ist versperrt und zu hoch zum Darüberklettern. Ohnehin lädt es nicht gerade zu Erkundigungen ein, denn unsichtbar hinter den ersten Bäumen scheint dort ein großes, grässliches Wesen herumzuschleichen. Ich konnte es nicht sehen, dafür deutlich hören, und nach seinem Gebrüll zu schließen, muss es groß wie ein Elefantenbulle sein, aber zweimal so wild.
Ich bummelte also durch einen der Hängenden Gärten aufder anderen Palastseite und schwelgte in dem starken Duft nach Jasmin und Lavendel, als ich zufällig an einer kleinen Holztür vorbeikam. Sie war ungefähr so groß wie
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