Die Kinder des Kapitän Grant
Felsen bildete, erschien eine Flucht unausführbar. Den einzigen Ausweg bot eben das Thor des Waré-Atoua; die Maoris bewachten aber den schmalen Landrücken wie eine Ausfallsbrücke. Nach mehrfacher Untersuchung der Wände mußte Glenarvan sich gestehen, daß an einen Ausbruch nicht zu denken war.
Indessen enteilten die Stunden dieser angstvollen Nacht. Tiefe Dunkelheit lagerte um den Berg Weder Mond noch Sterne milderten sie. Einige Windstöße rüttelten an den Planken des Pah, so daß die Pfähle knarrten. Das Wachtfeuer der Eingeborenen flammte lebhafter dabei auf; die Flammen warfen einen kurzen Schein in das Innere des Waré-Atoua und beleuchteten einen Augenblick lang die Gruppe der Gefangenen. Die Armen waren in traurigem Sinnen verloren; das Schweigen des Todes herrschte in der Hütte.
Es mochte gegen vier Uhr Morgens sein, als der Major durch ein leises Geräusch aufmerksam wurde, das sich nahe den Pfeilern der Rückwand bemerkbar machte. Da es nicht nachließ, horchte Mac Nabbs gespannter auf. Dann legte er sogar, da jenes immer fortdauerte, das Ohr auf den Boden. Ihm schien es, als grübe Jemand von draußen die Erde auf.
Als er sich darüber vergewissert hatte, glitt er zu Glenarvan und John Mangles hin, die er ihren schmerzlichen Träumereien entriß, indem er sie nach dem Hintergrunde der Hütte führte.
»Horcht hier!« sagte er mit leiser Stimme und bedeutete sie, zu schweigen.
Das Scharren wurde deutlicher, man konnte kleine Steine an einem harten Instrumente knirschen und draußen herabrollen hören.
»Das ist irgend ein Thier in seinem Baue«, sagte John Mangles.
Glenarvan schlug sich gegen die Stirn.
»Wer weiß, sagte er, wenn es nun ein Mensch wäre? …
– Mensch oder Thier, versetzte der Major, ich weiß, was zu thun ist«.
Wilson und Olbinett machten sich gleichzeitig mit daran, den Erdboden aufzuwühlen, John mit seinem Dolche, mit spitzen Steinen, ja, mit den bloßen Nägeln, während Mulrady auf dem Fußboden ausgestreckt unter der Matte hin den Trupp Eingeborener im Auge behielt.
Die um ihr Feuer bewegungslos daliegenden Wilden hatten keine Ahnung davon, was zwanzig Schritte von ihnen vorging.
Die obersten Erdschichten über dem kieseligen Tuffstein bestanden aus lockerem, zerreiblichem Boden, so daß das Loch auch ohne Werkzeuge zusehends wuchs. Bald wurde es klar, daß ein oder mehrere Menschen, welche sich an den Felsenwänden unterhalb der Hütte befinden mußten, deren Wand unterhöhlten. Zu welchem Zwecke geschah das aber? War ihnen die Anwesenheit der Gefangenen bekannt oder war hier irgend ein Zufall im Spiele?
Die Gefangenen verdoppelten ihre Anstrengungen. Schon bluteten ihre Finger, – sie gruben weiter. Nach einer halben Stunde war das Loch schon drei Fuß tief. Aus dem schärferen Geräusche konnten sie es abnehmen, daß nur noch eine dünne Erdschicht die Verbindung von innen nach außen unterbrach.
Einige Minuten verflossen noch so, als der Major plötzlich seine Hand, die von einem scharfen Instrumente getroffen war, zurückzog.
John Mangles streckte seinen Dolch voraus und parirte so die draußen arbeitende Messerklinge, ergriff aber die Hand, welche sie hielt.
Das war die einer Frau oder eines Kindes, aber eine Europäerhand!
Noch war von keiner Seite ein Wort gefallen. Offenbar lag auf beiden Seiten ein Interesse vor, zu schweigen.
»Ist das etwa Robert?« sagte Glenarvan halblaut.
Trotzdem hatte ihn Mary Grant, welche von den Bewegungen in der Hütte erwacht war, gehört. Leise glitt sie zu Glenarvan hin, ergriff jene ganz mit Erde bedeckte Hand und küßte sie inbrünstig.
»Du! Du bist es! sagte das junge Mädchen, die sich nicht täuschen konnte, Du, mein Robert!
– Ja, kleine Schwester, antwortete Robert, ich bin da, um Euch Alle zu retten. Aber still! still!
– Du braves Kind! sagte Glenarvan.
– Beobachtet nur die Wilden draußen«, mahnte Robert.
Mulrady, dessen Aufmerksamkeit die Erscheinung des Knaben etwas abgelenkt hatte, nahm seine Stelle wieder ein.
»Es geht Alles gut! sagte er. Nur vier Krieger sind wach, die Anderen schlafen.
– Muth also!« rief Wilson.
Sofort wurde die Oeffnung erweitert, und Robert flog aus den Armen seiner Schwester in die Lady Helena’s. Um seinen Körper war ein langes Phormiumseil geschlungen.
»Mein Kind! Mein Kind! lispelte die junge Frau, die Wilden haben Dich also nicht umgebracht?
– Nein, Madame, antwortete Robert. Doch weiß ich selbst nicht, wie ich während des Tumultes ihren Augen
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