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Die Kinder des Kapitän Grant

Die Kinder des Kapitän Grant

Titel: Die Kinder des Kapitän Grant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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wo der Mensch ihn nicht erreichen kann, und von da herab dringt sein scharfer Blick und vermag zum Staunen der Naturforscher die kleinsten Gegenstände zu unterscheiden.
    Hatte dieser Condor vielleicht Robert’s Leichnam erblickt? »Wer weiß?« sagte Glenarvan wiederholt und unverwandten Blickes. Der ungeheure Vogel kam näher, beschrieb weite Kreise, man konnte ihn genau erkennen mit seiner Flügelweite von mehr als fünfzehn Fuß.
    Der Major und Wilson griffen nach ihrem Gewehr. Glenarvan mahnte sie mit einem Wink ab. Der Condor umkreiste in wiederholtem Flug eine unzugängliche Hochfläche, die eine Viertelmeile hoch auf dem Abhang der Cordilleren lag. Er drehte sich mit schwindelhafter Schnelligkeit, öffnete und schloß seine fürchterlichen Krallen.
    »Dort! dort!« rief Glenarvan.
     

    Da fuhr ein Gedanke plötzlich durch seinen Geist.
    »Wenn Robert noch am Leben ist! rief er mit fürchterlichem Ton, dieser Vogel … Feuer! liebe Freunde, Feuer!«
    Aber es war schon zu spät, der Condor war hinter einen hohen Felsenvorsprung geschlüpft. Nach einer Secunde kam der Riesenvogel wieder zum Vorschein, mit einer schweren Last emporfliegend. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr den Schauenden. Man sah in den Krallen des Condor Robert Grant’s Körper entseelt hin und her geschüttelt. Der Vogel hatte ihn bei den Kleidern gefaßt und wiegte sich in den Lüften, mindestens hundertundfünfzig Fuß hoch über der Lagerstätte. Als er die Reisenden sah, trachtete er mit seiner Beute zu entfliehen.
    »Ach! rief Glenarvan, lieber zerschmettere Robert’s Leichnam an den Felsen –«, ohne auszureden ergriff er Wilson’s Carabiner, versuchte auf den Condor anzulegen; aber sein Arm zitterte, seine Augen wurden trübe.
    »Lassen Sie mich schießen«, sagte der Major.
    Und ruhigen Blickes, mit sicherer Hand, unbewegtem Körper, zielte er auf den Vogel, der schon dreihundert Fuß über ihnen schwebte.
    Aber er hatte noch nicht den Hahn losgedrückt, als im Grund des Thales ein Schuß fiel, und der Condor, am Kopf getroffen, sank langsam im Kreise sich drehend, indem seine ausgebreiteten Flügel als Fallschirm dienten. Er ließ seine Beute nicht los und senkte sich langsam zum Boden, zehn Schritte weit vom Uferrand des Baches.
     

    »Herbei! herbei!« rief Glenarvan.
    Und ohne zu fragen, woher der rettende Schuß kam, stürzte er auf den Condor. Seine Genossen eilten ihm nach.
    Als sie ankamen, war der Vogel bereits todt, und Robert’s Körper war von den weiten Flügeln bedeckt. Glenarvan warf sich über den Leichnam des Knaben, machte ihn von des Vogels Krallen los, legte ihn auf’s Gras und lauschte mit dem Ohr an der Brust des unbelebten Körpers.
    Allgemeiner Jubel begrüßte den Ruf Glenarvan’s:
    »Noch bei Leben!«
    Im Nu ward Robert entkleidet, sein Gesicht mit frischem Wasser besprengt. Er bewegte sich, schlug die Augen auf, blickte um sich. Seine ersten Worte waren:
    »Ah! Sie, Mylord … mein Vater! …«
    Glenarvan vermochte keine Antwort vorzubringen, so war er von Rührung erstickt, und knieend weinte er neben dem so wunderbar geretteten Knaben.

Fünfzehntes Capitel.
Wie Jacques Paganel Spanisch lernte.
    Nach der ungeheuren Gefahr, der er glücklich entronnen war, drohte Robert eine kaum minder große, nämlich die, von Liebesbezeugungen erstickt zu werden. Obgleich er noch sehr schwach war, konnte sich doch Keiner von den guten Leuten enthalten, ihn an’s Herz zu drücken.
    Nach dem Geretteten dachte man erst an den Retter, und natürlich war es zuerst der Major, der sich anschickte, umher zu blicken. Gegen fünfzig Schritt vom Flusse stand ein sehr großer Mann unbeweglich auf einer der ersten Stufen des Bergabhangs. Eine lange Flinte hatte er neben sich. Dieser so plötzlich aufgetauchte Mann war breitschulterig und hatte lange, mit Lederriemen zurückgebundene Haare. Er war über sechs Fuß hoch; sein bronzefarbenes Gesicht war nur zwischen den Augen und dem Munde roth, am untern Augenlide schwarz und an der Stirne weiß gefärbt. Sein Anzug glich dem der Patagonier an der Grenze. Er trug einen prächtigen Mantel, der mit rothen aus dem Halse und den Beinen eines Guanaco verfertigten Arabesken geziert, mit Sehnen vom Strauß genäht war und seine seidenartige Wolle nach Außen gekehrt hatte. Unter dem Mantel hatte er noch ein von Fuchsfellen gearbeitetes, eng an den Leib anschließendes Kleid, das sich nach vorn in einer Spitze endigte. Am Gürtel hing ein kleiner Beutel, der die ihm zur Bemalung des

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