Die Kinder des Ketzers
Anhaltspunkt hatte er nun mal nicht.
Fabiou brauchte fast eine halbe Stunde, um zu begreifen, dass es eine viel einfachere Methode gab, einen berühmten Dichter auf einer Festgesellschaft aufzuspüren: Man musste eigentlich nur den Damen zwischen fünfzehn und fünfunddreißig – gelegentlich auch älter – folgen, die paarweise oder in kleinen Grüppchen allesamt in dieselbe Richtung strömten.
Der Dichter saß auf der steinernen Brüstung eines kleinen Pavillons im griechischen Stil und war umlagert von einem Trupp aus mindestens dreißig Damen, die nervös kicherten oder sich hektisch Luft zuwedelten – das Rauschen der unzähligen Fächer klang wie der Flügelschlag eines gigantischen Insekts. Er war geringfügig weniger attraktiv als auf den Zeichnungen, die Nase etwas größer, die Stirn etwas höher, das Haar nicht ganz so perfekt onduliert, und vor allem trug er keine Toga, sondern ein Wams und enganliegende Beinkleider. Im Moment war er ganz damit beschäftigt, die Ovationen der vereinigten Damenschaft entgegenzunehmen und hier und dort ein Gedichtbändlein mit seiner Unterschrift zu verzieren.
Fabiou schob sich mit einem «Entschuldigt, ich bin beruflich hier», durch die Horde der Bewunderinnen, was ihm einige böse Blicke einbrachte, wenn die Damen es auch nicht wagten, ihn zu maßregeln, und erreichte somit schon nach etwa zehn Minuten den Dichter. «Bonjour», sagte er in seinem besten Französisch. «Mein Name ist Fabiou Kermanach de Bèufort.»
Baïf, der gerade eine wahre Lobeshymne von einer pummeligen Schwarzhaarigen über sich ergehen ließ, wandte sich um und sah Fabiou mit einem nichtssagenden Lächeln an. «Ja?»
«Mein Name ist Fabiou Kermanach de Bèufort», wiederholte Fabiou noch einmal. «Ich beabsichtige, ebenfalls Poesie zu schaffen.»
Er hatte sich diesen Satz lange überlegt, er fand, es klang gut, viel besser als ‹ich möchte auch mal Dichter werden›, was ja wohl die Bemerkung eines Kindes war, während ‹ich beabsichtige, Poesie zu schaffen› seiner Beherrschung der französischen Sprache und seiner Fähigkeit, mit Worten umzugehen, hinreichend Ausdruck verlieh.
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«Ah. Interessant», sagte Baïf und wandte sich der nächsten Dame zu, und schon drängelten sich andere zwischen Fabiou und den Dichter.
Demoralisiert kehrte Fabiou dem Pavillon den Rücken zu und suchte sich ein schattiges Plätzchen, um seiner poetischen Tätigkeit nachzugehen. Blödmann! Junge Talente muss man schließlich fördern, davon hat der wohl noch nie etwas gehört!
Ob es an seiner Enttäuschung über Baïf lag oder ob ihn die Neuigkeiten der vergangenen Stunde noch zu sehr beschäftigten – Tatsache war, dass seine Muse noch nie so unproduktiv gewesen war wie in diesem Augenblick. Ihm fiel genau genommen nicht mal ein Thema ein, über das er hätte schreiben können, geschweige denn die passenden Worte dazu! Vielleicht stimmte es einfach doch, dass er sich nicht zum Sonetteschreiben eignete. Vielleicht sollte er sich wirklich mal an einer Ballade versuchen, über den Untergang des römischen Imperiums oder über den Fall von Troja oder vielleicht auch über etwas Moderneres, den Sacco di Roma zum Beispiel…
Und in diesem Moment kam ihm eine wahrhaft geniale Idee. Die Morde. Er würde eine Ballade über die Morde schreiben. Wenn er sie aufgeklärt hatte, natürlich. Das war doch etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes! Soweit er wusste zumindest. Eine Mordserie aus der direkten Gegenwart als Thema einer Ballade!
Nun gut, ein paar technische Schwierigkeiten wären natürlich noch zu bewältigen. So braucht jede Ballade einen jugendlichen Helden und einen Schurken. Der Schurke würde sich im Verlauf der Nachforschungen finden – hoffte er zumindest –, aber was war mit dem jugendlichen Helden? Es war mehr als fraglich, ob ein fünfzehnjähriger Fabiou Kermanach de Bèufort dazu geeignet war. Nein, er brauchte jemanden, der mit dem Degen in der Hand gegen den Schurken kämpfte und Jungfrauen vor schrecklichen Schicksalen rettete. Nun, er hatte ja noch Zeit. Irgendwann im Verlauf dieser Geschichte würde der jugendliche Held hoffentlich noch auftauchen.
Beflügelt von seiner Idee kramte Fabiou seine bisherigen Notizen zu den Morden hervor und begann sie mit dem, was er heute erfahren hatte, zu vervollständigen.
«Was machst du denn da?», fragte eine Stimme über ihm. 262
Fabiou sah auf und blickte zunächst etwas irritiert drein, denn ringsum war keiner, die nächsten Festgäste
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