Die Kinder des Ketzers
August ‘40 stieß er auf einen neuerlichen Bericht zu Merindou. Dort berichtete der Stadtschreiber, dass ein Gerichtsdiener des Parlaments, begleitet von einer Zahl Waffenknechte, nach Merindou gefahren sei, um das Dekret in die Tat umzusetzen, den Ort aber quasi verlassen vorgefunden hatte. Die wenigen zurückgebliebenen Einwohner berichteten, die übrigen Dorfbewohner seien mit Sack und Pack in die Berge geflohen, da es eine Warnung gegeben habe, dass die Gerichtsbarkeit im An323
marsch sei. Das unerwartete Verschwinden all jener verdächtiger Personen sorgte, so der Stadtschreiber, im Parlament für großen Unmut; schließlich seien die Vorbereitungen zur Verhaftung der Ketzer im Geheimen gelaufen, so dass niemand sich erklären konnte, auf welchen Wegen man in Merindou davon erfahren hatte. Die Fortsetzung fand sich unter November ‘40. Der Stadtschreiber ereiferte sich nun darüber, dass die Ketzer von Merindou nicht nur die Unverschämtheit besaßen, die Vorladung vor das Gericht in Ais komplett zu missachten, nein, zunehmend häuften sich auch die Berichte, dass die von Merindou sich bewaffnet haben, um gegen ein weiteres Vorgehen des Gerichtes gewaltsamen Widerstand zu leisten. Um jenem gefährlichen Treiben der Sekte Einhalt zu bieten, habe das Parlament mit Wirkung vom 18. November ein Urteil erlassen, das die neunzehn genannten Personen zum Tod auf dem Scheiterhaufen verdamme und die Konfiszierung all ihrer Güter vorsehe sowie die Verhaftung und Aburteilung ihrer Familien, Frauen, Kinder und Dienstleute.
Fabiou lehnte sich zurück. Unbehaglich machte er sich klar, wie sehr sich diese Version der Geschichte von der unterschied, die ihm der Buous erzählt hatte. Gut, er kannte den Buous, so lange er denken konnte, und er wusste, dass derselbe viel daherredete, wenn der Tag lang war. Dennoch. Der Buous gehörte zu den Menschen, denen das Herz auf der Zunge saß. Möglich, dass er übertrieben hatte. Aber er hatte ihn ganz bestimmt nicht angelogen. Wem soll man glauben? Einem Mann, den man ein Leben lang als aufrecht und geradlinig kennt? Oder einem offiziellen Stadtschreiber, ein Fremder zwar, aber dafür eine Amtsperson?
Was ist Wahrheit, dachte Fabiou. Der Satz berührte etwas in ihm, als er ihn in seinem Geist formulierte. Gab es nicht einen Satz in der Bibel, der so lautete? Und war da nicht irgendetwas gewesen mit diesem Bibelspruch, etwas, woran er sich eigentlich erinnern sollte?
Fabiou schüttelte heftig den Kopf und las weiter. Und im Mai 1541 stieß er dann zum ersten Mal auf den Namen Discipuli Antonii.
In seiner üblichen detailgetreuen Art listete der Stadtschreiber minutiös alles auf, was zu Ais über die Raubzüge der Antonius324
Jünger bekannt wurde, die Namen der bestohlenen Junker, die Art der gestohlenen Güter, der finanzielle Schaden in Écu d’Or . r Auch hier waren die Namen zum Teil in lateinischer und zum Teil in französischer Form notiert. Über die Antonius-Jünger selbst verrieten diese Texte nicht allzu viel Neues – dass ihr Anführer ein gewisser Johannes Pastorius, Joan lou Pastre war, ein ehemaliger leibeigener Schäfer aus dem Luberoun, dessen Karriere als Räuberhauptmann gleich mit einem Anschlag auf Leib und Leben des Verwalters seines Herrn begann, der glücklicherweise nur leichte Verletzungen davontrug; dass die Antonius-Jünger sich in den Schluchten des Luberoun zu verkriechen pflegten, wo ihre überlegene Ortskenntnis eine Ergreifung nahezu unmöglich machte; und dass sie gerüchteweise durch das Wirken eines ausländischen Söldners namens Enri Nicoulau eine gewisse militärische Ausbildung besaßen, die sie umso gefährlicher machte. Von Morden der Antonius-Jünger war hier nicht die Rede, umso mehr Hühner-, Pferde-und Viehdiebstähle, Raubüberfälle auf Reisende und Angriffe auf die Vorratsschuppen der ansässigen Edelleute wurden zu Protokoll gebracht. Offenbar war zwischen 1540 und 1545 nichts, was nicht niet-und nagelfest war, vor den Antonius-Jüngern sicher gewesen.
Die erste wirklich interessantere Stelle fand sich denn auch erst im Juli 1544. Es wird berichtet, so der Stadtschreiber, dass Joan, genannt lou Pastre, Räuberhauptmann und Missetäter, nahe dem Dorf Sant Francès in Haft genommen und vom dortigen Lehens-und Gerichtsherrn zum Tode am Strang verurteilt wurde. Der Name des genannten Edelmannes sei – Fabiou pfiff durch die Zähne, was man in Bibliotheken niemals tun sollte und ihm augenblicklich mordlustige Blicke von Seiten der
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