Die Kinder des Ketzers
Raubmord-These nichts dran war. Bossard war nicht ausgeraubt worden. Bossard wäre auch der Letzte gewesen, den sich ein Räuber als Opfer ausgesucht hätte, angesichts all der vor Gold, Perlen und Edelsteinen glitzernden Weiber. Bossard zu töten wäre für einen Räuber auch völlig überflüssig gewesen, da er sich zum Zeitpunkt seiner Ermordung im Vollrausch befunden hatte; weder hätte er einen Raub abwehren, noch den Täter hinterher identifizieren können. Wieso hatte man ihn also getötet? War der Mörder ein fanatischer Protestant, wie der kleine Navarra gemutmaßt hatte?
– Möglich, immerhin war der Ermordete ein fanatischer Katholik 321
gewesen, ein Carcist, der den ganzen Abend Hetzparolen gegen die von der « religion » gedroschen hatte.
Aber warum die Schrift? Warum Santonou?
Und wenn der Mörder tatsächlich ein übrig gebliebener Antonius-Jünger war? Kein Raubmord, war das denn gleichbedeutend mit kein Antonius-Jünger? Gab es am Ende ein anderes Motiv, das die ehemalige Plage des Luberoun nun zum Morden trieb? Bossard war an der Jagd auf die Antonius-Jünger beteiligt gewesen. Bossard war einer von jenen, die Joan lou Pastre und Enri Nicoulau aufs Schafott gebracht hatten. Wollte der Mörder Rache für die Hinrichtung seiner Kumpanen? War das der Grund für die Schrift, die an jedem Tatort gefunden wurde? Waren vielleicht auch Trostett und Bruder Servius in irgendeiner Form an der Ergreifung der Antonius-Jünger beteiligt gewesen?
Nun gut, vielleicht lieferte jener Packen nüchtern beschriebenen Pergaments, verfasst von einem uninspirierten Stadtschreiber, ein paar Antworten auf diese Fragen.
Die Ereignisse waren chronologisch geordnet. Fabiou blätterte langsam durch die Seiten, die er mit einem raschen Blick überflog. Es störte ihn nur wenig, dass das Schriftstück komplett in Latein gehalten war, er las diese Sprache fast ebenso schnell wie Französisch.
Der Schreiber hatte sich weder einer besonders eloquenten Sprache befleißigt, noch war seine Grammatik die allerbeste. Trocken, gleichförmig und dabei extrem detailverliebt schrieb er die Ereignisse herunter, beschrieb Markttage und Hinrichtungen, Gerichtsurteile und Festivitäten, politische Ereignisse und harmlose Anekdoten.
Fabiou war noch nicht allzu weit gekommen, als ihm ein einzelnes Wort ins Auge stach. Mérindol.
Mérindol. Das war die französische Schreibweise des Dorfs Merindou, wie er seit dem Gespräch mit dem Buous wusste. Der Eintrag war dem Juli 1540 zugeordnet. Im Mai 1540, so berichtete der Stadtschreiber, habe der König das Parlament der Provence ermächtigt, alle ihnen angemessen erscheinenden Maßnahmen zur Bekämpfung der lutheranischen und waldensischen 322
Sekten zu ergreifen, da es den niederen Rechtsinstanzen offenbar nicht gelang, deren Treiben Einhalt zu gebieten. In Erfüllung dieser Verfügung habe das Parlament von Aix jetzt ein Dekret erlassen, das die Verhaftung und Verhörung verschiedener der Ketzerei verdächtigten Personen anordnete. Ein Dokument des Gerichtsschreibers der Kriminalgerichtsbarkeit nannte namentlich neunzehn Personen, auf die sich dieses Dekret beziehe, die meisten aus Merindou oder dessen unmittelbarer Umgebung, so ein gewisser Hélion aus Tourves, der bei den waldensischen Ketzern die Rolle eines Geistlichen ausübte, ein Claude Favery, mehrere Mitglieder der Familie Mainard, ein Jean Pons, ein Bertin Vian, Jean und Hugues Pellenc, Peron Rey und der Schulmeister Jacques. Dreitausend Waldenser. Mit diesen neunzehn hatte es angefangen. Die Namen hatten etwas Beunruhigendes, rissen diese Menschen aus dem gleichgültigen Sumpf der Anonymität. Jean und Hugues Pellenc – waren das Brüder oder Vater und Sohn? Die Schreibweise der Namen war zum Teil lateinisiert, zum Teil auch dem Französischen angepasst – wohl weil die Orginaldokumente französisch waren –, aber vermutlich waren es in Wirklichkeit ein Jan und ein Hugue gewesen, wie es sie auch unter den Bauern in Castelblanc gab. Die Familie Mainard – er konnte plötzlich nicht anders, als sich eine große Bauernfamilie vorstellen, Eltern, Großeltern, Söhne und Töchter, die vergnügt um einen großen Esstisch herumsaß.
Fabiou gab sich einen Ruck. Verflucht, Junge, es waren Ketzer!
Selbst wenn damals auch Unschuldige ums Leben gekommen sind, wie der Buous und der Bonieus sagen, diese neunzehn, um die es hier geht, waren Ketzer! Und hatten ihr Schicksal somit verdient, verdammt noch mal!
Er blätterte weiter. Im
Weitere Kostenlose Bücher