Die Kinder des Ketzers
Santonou
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Kapitel 7
in dem Fabiou eine Menge schrecklicher Geschichten erfährt Ain Geyr ist ausgeflogen
Im Högew am Schwarzwald.
Er hat vil Jungen ausszogen,
Die Bauern allenthalb.
Sie sind aufrürig worden
In teutscher Nation
Und hand ain bsunder Orden,
Vielleicht wirds in wol gon.
Herschaft die thund sie schrecken,
Das sie kam wais wa naus,
Die Bauren thuns aufwecken
Und nemends nach der Baus.
Es seind mir seltzam Kunden.
Sie wagen dir ir haut,
Sie hand an Sinn erfunden,
Wer hett in das zutraut?
Conz Annahans, schwäbischer Liedermacher, und Anton Forner, Anführer der aufständischen Bauern zu Nördlingen im März 1500
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Als Fabiou am nächsten Morgen gegen acht Uhr aus seinem Bett hüpfte, war das Haus totenstill. Die Familie schlief noch, nachdem es am vergangenen Abend ziemlich spät geworden war, und die Dienerschaft nutzte die Gelegenheit, ebenfalls auszuschlafen, oder bemühte sich zumindest, leise zu sein, um die Herrschaft nicht in ihrem Schlummer zu stören. Was Fabiou betraf, so hielt ihn heute Morgen nichts in seinem Bett. Eine Straße und knappe hundert Schritt weiter wartete etwas auf ihn, das eine deutlich größere Anziehungskraft besaß als jede noch so kuschelige Daunendecke. Fabiou legte an sich nicht allzu viel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild, er war noch in jenem Alter, wo man sich wenig um die holde Weiblichkeit schert und wo Bequemlichkeit und Zweckmäßigkeit wichtiger sind als Modeerscheinungen. Doch heute morgen – er verzichtete darauf, einen Diener zu rufen, sondern kramte stattdessen selbst in den Kleidertruhen – schlüpfte er freiwillig in eine enganliegende blaue Samthose und ein ebenfalls blaues Wams mit hochgeschlossenem Kragen und drückte sich ein weiches, samtenes Barett auf seinen roten Wuschelkopf. Wenn er jetzt noch in die Stiefel schlüpfte, sich um einen aufrechten Gang bemühte und ein entschlossenes Gesicht machte, konnte man ihn eventuell für sechzehn halten, und dann bestand die Chance, dass sein Vorhaben erfolgreich wäre. An diesem Morgen bereute er es zum ersten Mal, dass er keinen Degen sein eigen nannte, damit hätte er doch gleich noch erwachsener gewirkt.
Es war noch immer unglaublich still im Haus, als er leise die Treppe hinunterhüpfte. Der Pförtner hing im Halbschlaf auf seinem Stuhl und beachtete ihn kaum, als er mit der Bemerkung, er wolle kurz spazieren gehen, zur Tür hinausschlüpfte. Die Sonne beschien die Dachgiebel, als er auf die Carriero de Jouque hinaustrat. Die Stadt war noch kühl und erfüllt von morgendlicher Geschäftigkeit, Bauern auf dem Weg zum Markt, Händler, die ihre Ware abluden. Er lief durch die Carriero de Jouque, in der vergleichsweise wenig los war, aus dem einzigen Grund, dass die Straße so eng war, dass sie selbst einem schmalen Gespann keinen Platz bot. In der Tat konnte man an manchen Stellen mit ausgebreiteten Armen die Hauswände zu beiden Seiten berühren. 318
Die Carriero de Jouque wandte sich nach links, und nach wenigen Schritten stand Fabiou auf der Plaço de Sant Sauvaire. Einen Augenblick lang blieb er stehen, die Arme in die Seiten gestemmt. Zur Linken klang bereits das Hämmern und Sägen aus dem Portal von Sant Sauvaire mit seiner Darstellung der Propheten und Apostel und himmlischen Heerscharen. Geradeaus jenseits des Platzes ein Neubau im italienischen Stil – niemand anders als der Erste Parlamentspräsident, Jean Maynier d’Oppède, hatte hier seine Bleibe. Und zur Rechten, majestätisch und erhaben, der Stolz von Ais, das Symbol von Weisheit, Wissen und Fortschritt – die Universität. In Ordnung. Wird schon gut gehen.
Fabiou holte tief Luft und schritt auf die Pforte zu. Es war noch nicht allzu viel los in den Hallen des Wissens um diese Tageszeit – Studenten standen auch nicht gerade im Ruf, ausgemachte Frühaufsteher zu sein. Nur ein paar Übereifrige, bürgerliche Stipendiaten größtenteils, die im Gegensatz zu ihren adligen Kommilitonen ihr Studium als die Chance ihres Lebens begriffen, liefen bereits mit unter den Arm geklemmten Büchern durch die hallenden Gänge und verschwanden im Auditorium oder in einem der Studierzimmer. Fabiou tat so, als gehöre er dazu. Er wagte es nicht zu fragen, aus Angst, aufzufallen, und so fand er die Bibliothek erst nach einer guten halben Stunde, am Ende eines Ganges, von dessen Wänden ihm die honorigen Magister der Alma mater von Ais in Öl entgegensahen. Aus dem Augenwinkel versuchte er, die Namensschilder unter den
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