Die Kinder des Ketzers
zurück in das Haus in der Carriero de Jouque in Ais, zurück zu Catarino und Mama und Frederi. Ohne weiter nachzudenken drehte sie sich um und rannte.
Korridore aus Marmor und Alabaster, Alabaster und Marmor, dehnen sich aus in Unendlichkeiten, auseinanderweichend, in der Ferne verdämmernd vor ihren hastigen Schritten, ein Hall wie in der Unendlichkeit des Weltengewölbes, so klein, so verloren, winzige Füße, die durch die Ewigkeit stolpern. Da ist eine Bie- gung, nach rechts, den rechten Weg will ich gehen, auf rechtem Pfade wandeln, Dunkelheit flutet aus Nischen und Türen, wirft Stolpersteine in ihren Weg. Doch weiter läuft sie, weiter, Angst hetzt sie vorwärts, denn es ist nah, jagt hinter ihr durch die Nacht, ein wildes Tier mit bluttriefendem Rachen, das aus der Finster- 338
nis ihre Witterung aufgenommen hat und ihr jetzt folgt, näher kommend mit jedem Sprung der mächtigen Glieder, der geifernde Atem widerhallend von den Mauern. Sie schreit, armselig ver- klingt ihre Stimme in der Weite des Raums, Mama, schreit sie, Mama, Mamaaa! Und jetzt wird aus dem Röcheln hinter ihr ein Lachen, kalt wie Eis und böse wie die Geister der Hölle, denn da ist keine Mama, sie zu beschützen, allein ist sie in einer Nacht so finster wie eine Gruft, allein, und wieder ruft sie, Papa, ruft sie jetzt, Papa, hilf mir, bitteee!
Sie stolpert. Etwas liegt quer über den Gang auf dem steinernen Boden, ein langgestreckter, weicher Gegenstand, und sie steht und keucht und starrt auf das Ding zu ihren Füßen. Und schreit.
«Himmel, Cristino, wie wär’s mal mit Aufstehen? Es ist halb elf, wenn man den Glocken von Sant Sauvaire Glauben schenken kann!»
Cristino fuhr hoch mit einem Keuchen, als hätte man sie soeben eine Minute lang unter Wasser gedrückt. «Wie… was…»
«Halb elf», wiederholte Catarino. «Frederi hat schon dreimal zum Frühstück gerufen.»
Cristino starrte sie verwirrt an. Gott, was war das für ein Traum gewesen? Was in aller Welt war das für ein Traum gewesen?
«Komm schon, ich rufe Anno. Anno! Cristino will sich anziehen!»
Der Spiegel… Das Mädchen, das sie selbst war und doch wieder nicht… und dann das Ungeheuer, das sie gejagt hatte, war es denn ein Ungeheuer, war es überhaupt ein körperliches Wesen, oh Gott…
Und am Schluss…
Was war es, was sie dort hatte liegen sehen, am Schluss? Lieber Gott, was war das?
… Die heilige Jungfrau hat ein Band gewebt zwischen Euch und meiner Agnes…
Oh Gott!
Die Tür öffnete sich, und Anno trat ein.
Zum ersten Mal seit Wochen brauchte Cristino keine halbe Stunde, um sich für ein Kleid zu entscheiden. Anno suchte ein Kleid aus, 339
und willen-und kommentarlos ließ Cristino es sich anlegen, während sie mit starr geradeaus gerichtetem Blick die Wand anstierte und ihre Finger so bebten, dass sie nicht in der Lage war, ihre Ringe anzustecken. Später, beim Frühstück, saß sie stumm und blass auf ihrem Platz, und von dem Eierkuchen, den Oma Felicitas’ Köchin gezaubert hatte – und der wirklich traumhaft schmeckte –, brachte sie nicht mehr als zwei Bissen herunter. Ihre Verfassung fiel im Übrigen aber nicht weiter auf. Die ganze Tafel war in leicht gedrückter Stimmung, was daran lag, dass der Cavalié ziemlich ärgerlich war. Und das wiederum lag daran, dass Fabiou fehlte.
Derselbe spazierte zur Tür herein, als die Familie gerade dem Nachtisch zusprach, ein seliges Strahlen auf seinem Gesicht. «Wo warst du so lange?», fragte der Cavalié finster.
«Spazieren», entgegnete Fabiou unschuldig.
«Spazieren! Zur Frühstückszeit!»
«Na ja, ich wusste ja nicht, wie lange Ihr noch schlaft…»
«Du hättest ja wohl wenigstens einem Diener Bescheid sagen können, damit wir wissen, wo du bist! Deine Mutter hat sich schon Sorgen gemacht, bei all den schrecklichen Dingen, die zurzeit passieren!»
«Aber ich war doch gar nicht weit!»
«Widersprich mir nicht!» Frederi war gewaltig sauer. «Ich habe deinem Vater auf dem Totenbett versprochen, mich um dich zu kümmern, und ich werde nicht zulassen, dass dir in deinem jugendlichen Leichtsinn etwas zustößt! Das war das letzte Mal, dass du dich ohne Erlaubnis von zu Hause entfernt hast, verstanden?»
Immer die alte Leier! «Ja, Vater. Verstanden.» Fabiou setzte sich an den Tisch und starrte auf den Eierkuchen, den der Diener vor seine Nase platzierte. «Vater?»
«Was noch?», fauchte Frederi.
«Vater, ähm… ich habe da gestern so eine Geschichte gehört…
von La Costo und
Weitere Kostenlose Bücher