Die Kinder des Ketzers
dass der Kerl noch am Leben ist.»
«Aber lass uns annehmen, er wäre es!» Fabiou ließ sich nicht beirren. «Dann wäre es doch gut möglich, dass er für die drei Morde verantwortlich ist. – Jesus, schade, dass die Annalen so wenig über ihn verraten! Wir wissen weder, wie er aussieht, noch wie alt er ist, ob er zwanzig ist oder vierzig…»
«Wieso redest du immer von drei Morden?», fragte Antonius kopfschüttelnd. «Wieso glaubst du, dass Servius von demselben ermordet wurde wie Trostett und Bossard? Bei seiner Leiche hat man schließlich nirgendwo die Schrift Santonou gefunden!»
«Der Blutschmierer!» Fabiou fuhr hoch. «Der Blutschmierer an der Wand über dem Chorgestühl, den wir uns nicht erklären konnten! Da muss die Schrift gewesen sein, und jemand hat sie weggewischt!»
«Das ist doch albern!» Bruder Antonius schüttelte heftig den Kopf. «Wer sollte denn so etwas tun?»
«Ich weiß nicht», erklärte Fabiou. «Aber ich werde es herausfinden.»
Bruder Antonius seufzte tief. «Fabiou, wir drehen uns doch im Kreis. Findest du nicht, wir sollten die ganze Sache lieber lassen?
Jetzt, wo Bossard ermordet worden ist, wird der Viguié die Sache sicher mit höchster Präferenz behandeln, da ist es besser, wir mischen uns nicht länger ein.»
Fabiou nagte gewaltsam an seinem Daumennagel herum. «Ich werde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter der Sache steckt. Viel mehr, als wir im Moment noch ahnen.»
«Ich muss jetzt mit dem Unterricht anfangen», sagte Bruder Antonius, und Frederi Jùli stöhnte auf. «Besser, ihr geht jetzt. Du auch, Cristino. Cristino?»
Cristino saß auf ihrem Stuhl und drehte ihr Medaillon im Licht der einfallenden Sonne. Vorderseite – Rückseite, Rückseite
– Vorderseite.
«Cristino! Aufwachen!», rief Bruder Antonius lachend. Sie war so bleich. Es musste der Alkohol und der späte Schlaf sein. Langsam stand sie auf und tappte mit unsicheren Schritten der Tür zu. Fabiou folgte ihr, seinen Aufschrieb durch die Luft we345
delnd. «Und ich finde es heraus», murmelte er den Büchern an den Wänden zu, die ihm stumm ihre ledernen Rücken zukehrten.
***
«Großmutter?»
«Ja?» Oma Felicitas saß auf einem hochlehnigen, gepolsterten Stuhl und starrte auf ein Holzpult, das in mehr als einem Schritt Abstand vor ihr aufgebaut war. Auf der Schräge des Pults lag ein Buch, und vor das Buch hielt sie mit ausgestrecktem Arm ein großes Vergrößerungsglas. Im Gegensatz zu anderen alten Damen, die sich mit Stickereien und Geklöppel die Zeit vertrieben, hing Oma Felicitas trotz nachlassendem Augenlicht weiter der Kunst des Lesens an, sehr zum Ärger von Onkel Philomenus, der dies für eine Dame in ihrem Alter alles andere als schicklich hielt und überhaupt fand, dass ein anständiger Haushalt nur ein einziges Buch brauchte, und das war die Bibel.
«Großmutter, warum treffe ich nie jemanden, der meinen Vater kennt?» Außer diesem Ingelfinger, dachte Fabiou, und das macht es nicht unbedingt weniger mysteriös. «Alle kennen Onkel Philomenus und Fre… meinen Stiefvater, aber niemand kennt meinen Vater. Manchmal kommt es einem vor, als hätte es ihn gar nicht gegeben!»
Catarino, die auf der gegenüberliegenden Seite des salons in einem Sessel saß und – armer Onkel Philomenus – ebenfalls las
– einen Auszug aus den Nouvels Amours , den Trévigny ihr besorgt hatte –, blickte auf. Auch Cristino, die neben ihr saß und noch immer mit abwesendem Gesicht an ihrem Medaillon herumspielte, hob den Kopf. Die drei Kinder waren mit ihrer Großmutter alleine im Raum. Frederi war in die Stadt gegangen, zu hören, was es Neues bezüglich Bossards Ermordung gab, und die Dame Castelblanc hatte sich zurückgezogen, ihr war nicht wohl.
«Nicht gegeben? Das ist ja wohl das Albernste, was ich je gehört habe.» Oma Felicitas blätterte die Seite um. «Es ist nur natürlich, dass in der Umgebung von Castelblanc niemand deinen Vater kennt. Schließlich ist er aus der Gegend von Arle, er hatte wenig Kontakte zum Luberoun.»
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«Ja, aber hier in Ais muss er doch Bekannte gehabt haben. Schließlich hat er hier studiert», warf Catarino jetzt ein.
«Sicher. Er hatte hier ja auch Bekannte. Frederi zum Beispiel. Und Pierre.»
«Ja, aber abgesehen von unserer Familie», meinte Fabiou stirnrunzelnd.
«Himmel, da gibt es sicher welche, aber wer weiß, was aus denen geworden ist.» Oma Felicitas gab ihre Lektüre auf und legte das Vergrößerungsglas beiseite. «Die meisten werden wohl
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