Die Kinder des Ketzers
hatte sein Exlibris hineingedruckt und es dann ins Regal der Universität gestellt?
Diese Seite…
Fabiou runzelte die Stirn. Irgendwie war die Seite dicker als die anderen. Er stellte sie senkrecht und schielte über den oberen Rand. Heureka! Das war nicht eine Seite, es waren zwei, zwei zusammengeklebte Blätter!
In Ordnung. Ein Blick nach rechts, einer nach links, alle studieren eifrig, der Pförtner blättert in seinem Buch, keiner sieht her. Frisch ans Werk, fortuna audacem iuvat, das Glück hilft dem Tapferen!
Er versuchte zunächst, die Seiten mit den Fingern auseinanderzuziehen, doch das Pergament machte Anstalten einzureißen, so dass er dieses Vorhaben wieder aufgab. Eine neuerliche genauere Inspektion zeigte ihm, dass die beiden Seiten nahe der Bindung etwas auseinanderklafften, woraufhin er sein Messer aus dem Gürtel zog, in die Ritze einfügte und vorsichtig nach oben bewegte. Er hatte Glück. Die Seiten klebten offensichtlich nur an den Rändern zusammen, und die Haftstellen ließen sich mit dem Messer aufschlitzen, ohne dass die Seiten allzu stark beschädigt wurden. Dreimal setzte Fabiou das Messer an, dreimal durchtrennte er eine Klebestelle, dann ließen sich die Seiten auseinanderschlagen. Mit geweiteten Augen starrte Fabiou auf eine in geschwungenen Lettern mit scharlachroter Tinte geschriebene lateinische Inschrift:
SCIENTI SPLENDIDO
LITTERATO MAGNIFICO &
OPTIMO OMNIUM AMICORUM
MAGISTRI MORO
VIVAT SODALITAS &
IN AETERNUM AMICITIA NOSTRA
Dem glänzenden Wissenschaftler, großen Gelehrten und besten aller Freunde Magister Morus. Es lebe die Bruderschaft und auf ewig unsere Freundschaft. 336
Fabiou hielt den Atem an. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein. Und sich vorzustellen, dass er es beinahe übersehen hätte!
Unter der Inschrift stand, säuberlich von zwölf Händen untereinandergeschrieben, eine Liste der eigentümlichsten Namen, die Fabiou jemals gesehen hatte.
COMES IANUS
SCHIONATULANDER
AUGUSTUS
COSMAS
ORLÉANS
COER DE LION
ELEAZAR
LANCELOT
MOUNTAGNO
FRANCISCUS
GRACCHUS
CARFADRAEL
***
Der Traum war ein Tor in eine andere Welt, und jenseits des Tores war der Spiegel.
Blickte man sich um in der Welt, die er zeigte, so sah man die Wand, weißgetüncht, durchzogen von jener bemalten Zierleiste in Form eines Zopfmusters, die Farben grün und rot. Darüber die Decke, besetzt mit Stuck, der sich auf schlanke Ziersäulen stützte, die in blattförmige Kapitälchen ausliefen. Römischer Stil. Da war eine Statue am linken Rand des Bildes, ein Frauen- körper aus weißem Marmor, die rechte Hand in einer anmutigen Geste erhoben, zwei Finger ausgestreckt, die anderen leicht ange- winkelt, die zierlichen Brüste und die sanfte Rundung der Hüfte in eine marmorne Toga gehüllt, die leeren Augen in eine entrückte Ferne gerichtet. Der fahle Schein eines fernen Vollmonds brach durch ein unsichtbares Fenster, hüllte die steinerne Schöne in ei- nen überirdischen Glanz. Und ein ebensolcher Glanz schimmerte 337
in den Augen des Kindes, das Cristino aus dem Spiegel entgegen- sah, lächelnd, blinzelnd mit den langen blonden Wimpern, und das Medaillon auf ihrer Brust blinkte wie ein Abbild des Mondes selbst. Still lagen die Löwen dem Spiegel zu Füßen, und Cristino hob eine Hand, bewegte sie zu auf die goldfarbene Mähne, die großen Pranken, den elegant geschwungenen Schweif. Das Mädchen im Spiegel hob ebenfalls die Hand und bewegte sie nach vorne, so als wolle sie Cristino berühren. Cristino hielt inne, erschrocken durch diese plötzliche Bewegung, und auch das Mädchen erstarrte, eine kleine weiße Hand in die silbernen Strahlen des Mondes getaucht. Einen Schritt rückwärts machte Cristino, einen zweiten, und auch das Mädchen stolperte rück- wärts, einen erstaunten Ausdruck in dem kleinen Gesicht. Wer bist du, fragte Cristino und starrte auf die Lippen des Kindes, die sich bewegten in völligem Einklang mit den ihren. Dann blickte sie an sich hinunter, starrte auf die winzigen nackten Füße, die un- ter einem weißen Nachthemd hervorsahen, starrte auf die kurzen, pummeligen Kleinkinderarme an ihrer Seite – und begriff. Sie war nicht mehr Cristino Kermanach de Bèufort. Sie war Agnes, das Mädchen im Spiegel.
Panik ergriff sie. Sie wollte nicht Agnes sein, Agnes, das Mäd- chen, das ein schreckliches Unglück ereilt hatte, Agnes, die von Mörderhand gestorben war, sie wollte zurück, in ihren eigenen Körper, den Körper der Cristino de Bèufort,
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