Die Kinder des Ketzers
Zeichnung, diese Proportionalität! Das Wunder der menschlichen Schöpfung, festgehalten in diesen Seiten! Er muss Hunderte, ach was, Tausende von Leichen seziert haben, um sich dieses Wissen zu erarbeiten!»
«Leichen?» Cristino fuhr hoch.
«Ja. Natürlich.»
«Du meinst, die Menschen auf diesen Bildern… sind Tote?»
«Ja, natürlich – woher sollte er sonst wissen, wie es in einem Menschen aussieht, wenn er nicht Tote aufgeschnitten hätte.»
Cristino war mit einem Satz auf den Füßen und fünf Schritte zurück und bekreuzigte sich panisch. «Oh Gott», keuchte sie, «oh Gott, wenn ich das gewusst hätte… nie hätte ich es angefasst…»
Bruder Antonius betrachtete sie nachdenklich. «Cristino, warum hast du so unglaubliche Angst vor allem, was mit dem Tod zu tun hat?», fragte er langsam.
«Ich… ich… ich weiß nicht…»
«Cristino, der Tod ist nicht das Ende, das weißt du doch. Der Tod ist nichts anderes als das Tor, durch das wir zu Gott gehen.»
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«Ich weiß… ich habe doch auch keine Angst vor dem Sterben…
nur…» Sie brach ab. Sie zitterte am ganzen Körper.
«Nur was?», fragte Antonius ruhig.
«Nur vor den Toten!», stieß Cristino hervor.
«Cristino, Himmel, ein toter Körper ist nichts anderes als ein Kleid, das der Mensch ablegt, wenn er zu Gott geht. Was für einen Grund sollte es geben, vor einem abgelegten Kleid Angst zu haben?» Bruder Antonius schüttelte den Kopf.
«Ich… ich weiß…», stotterte Cristino, «aber wenn sie so daliegen… und einen ansehen… das ist so furchtbar…»
«Du meinst diesen Trostett und Senher Bossard, ja?», sagte Bruder Antonius verständnisvoll.
«Ja, die auch, und die… die…» Sie brach ab.
«Wer?», fragte Bruder Antonius erstaunt. «Wie viele Tote hast du denn noch gesehen in deinem Leben?»
«Keine. Nicht in meinem Leben. Ich meine…», hilflos suchten Cristinos Augen durch den Raum, «Ich… ich habe diese Träume, Bruder Antonius. Diese… seltsamen Träume!»
«Seltsame Träume?» Bruder Antonius seufzte. «Kind, weißt du, du bist in einem Alter, da ist es nichts Besonderes, wenn man…
hm… seltsame Träume hat.»
Cristino schoss das Blut ins Gesicht, als sie begriff, worauf er anspielte. «Nein! Nicht solche Träume!», rief sie. «Nichts mit…
Männern.»
«Was für Träume dann?», fragte Bruder Antonius
verständnislos.
«Von Toten», flüsterte Cristino.
«Von Toten?», echote Bruder Antonius ungläubig.
«Ich… Bruder Antonius, glaubst du, dass man vom Geist eines Toten besessen sein kann?», krächzte Cristino.
«Vom Geist – nein, natürlich glaube ich das nicht!», erklärte Bruder Antonius vehement. «Das ist blödsinniger Aberglaube und weiter nichts! Welcher Idiot hat dir denn diesen Mist erzählt?»
«Diese alte Frau… in dem verfallenen Garten… ich hatte mich verirrt, auf dem Fest bei den Mancoun, und da bin ich dieser Frau begegnet, und sie hat mir gesagt, das Medaillon hier, das ich ein paar Tage vorher gekauft habe, das hätte einem Mädchen gehört, 392
das Agnes hieß und das ermordet worden ist. Und sie hat gesagt, dass ein Band besteht zwischen mir und dieser Agnes.»
«Und du hast ihr das geglaubt?» Bruder Antonius lachte belustigt. «Oh, Cristino! Das ist doch albern!»
«Aber… aber auf der Rückseite des Medaillons steht wirklich der Name Agnes! Sieh doch!» Cristino drehte ihr Medaillon um und streckte es Bruder Antonius entgegen. Der studierte es einen Moment, dann schüttelte er heftig den Kopf. «Das besagt doch gar nichts, Cristino», meinte er. «Vielleicht hatte sich dein Medaillon verdreht, und sie hat es gesehen. Vielleicht hat sie dich beobachtet, als du es gekauft hast. Es gibt mehr als eine logische Erklärung für dieses Ereignis.»
«Aber seit diesem Tag habe ich diese Träume!», schrie Cristino.
«Was für Träume, heilige Maria?»
«Dass ich… dass ich Agnes bin», stotterte Cristino. «Und dass ich durch ein Haus laufe, im Dunkeln, und dass jemand mich verfolgt, eine Frau, und sie will mich umbringen, und dann stolpere ich immer über eine Leiche, und das bin auch ich! Und… und immer wieder träume ich von Toten, von vielen Toten, und von diesem Mädchen mit den schwarzen Haaren!»
«Ein Mädchen?», fragte Bruder Antonius stirnrunzelnd. Cristino nickte. «Sie… sie hat diese Augen, die sind so schwarz, so unendlich schwarz… die Barouno de Buous hat gemeint, es wäre die Jungfrau Maria, aber ich glaube das nicht!»
«Wer glaubst du denn,
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