Die Kinder des Ketzers
Stunde
meines Todes segnen: wenigstens sterbe ich, wenn du erlaubst, indem ich dir diene.
Cristino starrte fasziniert auf das duftende Blättlein. «Fast», meinte sie. «Es heißt, ‹que je beniray l’heure› und nicht ‹et je beniray l’heure›.»
«Ach! Pedantin!» Catarino ließ sich mit ausgestreckten Armen aufs Bett zurückfallen. «Trévigny! Gräfin Trévigny, das wäre natürlich auch etwas!»
«Da kommt Bruder Antonius», stellte Cristino mit einem Blick aus dem Fenster fest.
«Na und?»
«Ich… ich muss ihn kurz sprechen…» Cristino sprang auf und lief hastig aus dem Raum.
Den ganzen Weg zum Studierzimmer bastelte sie an der Rede, die sie Bruder Antonius zu halten gedachte. Lieber Bruder Antonius, es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder bin ich vom Geist eines toten Mädchens besessen, der wahrscheinlich über dieses Medaillon auf mich übergegangen ist, oder mich hat am letzten Samstag ein Hexenweib in einem verwunschenen Garten verhext. Auf alle Fälle brauche ich jetzt deinen Beistand als Mann der Kirche, um mich von diesem schrecklichen Fluch zu befreien. 387
Sie war schnell gelaufen, und als sie das Studierzimmer erreichte, war Bruder Antonius noch nicht da. Vermutlich ließ er sich von Suso noch einen Willkommenstrunk reichen, oder er war Fabiou in die Arme gelaufen, der ihm wieder mit einer seiner Mordtheorien auf die Nerven ging. Sie seufzte, sie war furchtbar nervös und hätte das, was sie vorhatte, lieber schnell hinter sich gebracht. Bruder Antonius ließ sich Zeit. Auf dem Gang schlugen Türen, vom Stall her wieherte ein Pferd. Cristino trat an eines der hohen Fenster und spähte durch die Butzenglasscheiben. Verzerrt durch das geschliffene Glas sah sie unten Loís über die Straße laufen. Sie zog hastig den Kopf ein. Seit dem Fest der Mancouns war sie Loís aus dem Weg gegangen. Sie ärgerte sich selbst über ihr schlechtes Gewissen. Warum machte sie sich überhaupt Gedanken? Loís hatte sich wirklich unverschämt benommen, und er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass Alexandre de Mergoult ihn geschlagen hatte. Überhaupt war es das gute Recht eines Edelmannes, einen ungehorsamen Diener zu schlagen. Gut, sie war das eben nicht gewohnt, Frederi hatte noch nie die Hand gegen einen seiner Untergebenen erhoben, aber Frederi war ja auch ansonsten ein Weichling, und Mergoult, Mergoult war nun mal ein richtiger Mann!
Dennoch. Der Blick, mit dem Loís sie angesehen hatte, trieb ihr noch jetzt die Schamesröte ins Gesicht.
Sie lief zur Regalwand hinüber. Bücher, nichts als Bücher, endlose Reihen von Büchern. Ob all diese Bücher jemals von irgendjemandem gelesen worden waren? Von Oma Felicitas vielleicht?
Oder früher von deren Mann, ihrem Großvater? Sicher nicht von Onkel Philomenus, und sicher nicht von ihrer Mutter. Und Vater?
Gott, wo blieb bloß Bruder Antonius!
Ihr Blick glitt über die Buchrücken. Unbekannte Titel, unbekannte Autoren, viele von ihnen noch relativ neu, die eingelegten Buchstaben auf dem Bundsteg blitzend in der einfallenden Sonne. Ihre Augen blieben auf einem hohen, dicken Buch hängen, Gott, was für ein Wälzer, er brauchte fast ein eigenes Regalfach!
DE HUMANI CORPORIS FABRICA, Vom Aufbau des menschlichen Körpers, stand auf dem Buchrücken in silbernen Lettern. Andreas Vesalius, MDXLIII, 1543.
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Noch immer kein Bruder Antonius in Sicht. Cristino griff nach dem Buch, wuchtete es aus dem Regal und legte es auf den Tisch. Ein Einband aus dunklem Leder. Sie schlug die erste Seite auf, sah auf den Namen unter dem Exlibris. Petrus Martinus Avingus, Aquae Sextiis. Das Buch hatte Onkel Pierre gehört. Klar, er war Docteur gewesen, er hatte sicher viele Bücher gehabt. Und nachdem seine Eltern kurz nach ihm starben und seine einzige Schwester nach Rom ging, war es naheliegend, dass Oma Felicitas sich seiner Bücher angenommen hatte. Sie blätterte weiter. DE HUMANI CORPORIS FABRICA. Das Buch zeigte Menschen, doch keine Menschen, wie man gewohnt war, sie zu sehen. Menschen, auf Stühlen sitzend oder in einer stilisierten Landschaft stehend, den Blick nachdenklich in die Ferne oder auf den Boden unter ihren Füßen gerichtet. Menschen, statt von einer Haut von eigentümlichen längsgestreiften Wülsten umgegeben, die zum Teil abgetrennt waren und lose von ihren erhobenen Armen herunterbaumelten. Menschen, die von einem eigentümlichen Netz aus roten Fäden überzogen waren wie ein Blatt von seinen Äderchen. Menschen, die aus Glas zu sein
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